»Ja, aber eine Frau«, wandte Neb-Amun ein. »Sie ist nicht die erste!«
»Neferet ist klug, das gestehe ich zu, doch es fehlt ihr an Tatkraft; die Erfahrung könnte ihre angelernten Kenntnisse in Stücke schmettern.«
»Sie hat an zahlreichen Übungen und Lehrgängen ohne Fehl teilgenommen«, erinnerte ein Arzt der allgemeinen Heilkunde.
»Diese Übungen stehen unter Aufsicht«, wies Neb-Amun katzenfreundlich hin, »wenn sie dem Kranken alleine gegenübersteht, wird sie dann nicht den Boden unter den Füßen verlieren? Ihre Widerstandskraft bereitet mir Sorge; ich frage mich, ob sie nicht fehlgegangen ist, als sie unserem Weg folgte.«
»Was schlagt Ihr vor?«
»Eine recht harte Prüfung und schwierige Kranke; falls sie die Lage meistert, werden wir uns dazu beglückwünschen. Im gegenteiligen Fall werden wir alles weitere erwägen.«
Ohne die Stimme erhoben zu haben, erhielt Neb-Amun die Zustimmung seiner Standesgenossen. Er dachte Neferet die unangenehmste Überraschung ihrer beginnenden Laufbahn zu, sie würde daran zerbrechen, und er würde sie dann aus dem schwarzen Loch ihres Falles ziehen und sie, die dann voller Dankbarkeit und gefügig wäre, in den Schoß seines Stabes aufnehmen.
Niedergeschmettert zog Neferet sich zurück, damit niemand ihre Tränen sah.
Die größte Anstrengung vermochte sie nicht abzuschrecken; doch sie hätte niemals erwartet, die Verantwortung für ein Siechenhaus der Streitkräfte zu übernehmen, in dem die krank oder versehrt aus Asien heimkehrenden Krieger untergebracht waren. An die dreißig Männer waren auf Matten gebettet; die einen röchelten, andere waren dem Wahnsinn verfallen, wieder andere entleerten sich aller Säfte. Der für die Gesundheitsfürsorge der Kaserne Zuständige hatte der jungen Frau nicht die geringste Verhaltensmaßregel an die Hand gegeben und sich damit begnügt, sie einfach stehenzulassen. Er gehorchte nur den Befehlen.
Neferet faßte sich wieder. Was auch immer der Grund für diese böswillige Quälerei war, sie mußte doch ihre Pflicht tun und diese Unglücklichen pflegen. Nachdem sie die Arzneimittelkammer der Kaserne geprüft hatte, gewann sie wieder Vertrauen. Die dringendste Aufgabe bestand erst einmal darin, die heftigen Schmerzen zu lindern; daher zermahlte sie fleischige Mandragorawurzeln – eine Pflanze mit langen Blättern, grünlichen Blüten und gelbroten Früchten –, um aus ihnen einen sehr wirksamen Stoff zu gewinnen, der als Schmerz- und Betäubungsmittel zugleich diente. Dann vermischte sie Dillfenchel, Dattel- und Traubensaft und ließ alles in Wein verköcheln; während vier aufeinanderfolgenden Tagen würde sie diesen Heiltrunk den Kranken verabreichen.
Darauf rief sie einen jungen Krieger herbei, der gerade den Kasernenhof fegte. »Du wirst mir helfen.«
»Ich? Aber ich …«
»Du bist zum Krankenpfleger ernannt.«
»Der Befehlshaber …«
»Suche ihn auf der Stelle auf, und sage ihm, daß dreißig Männer sterben werden, falls er mir deinen Beistand verweigert.«
Der Soldat fügte sich widerwillig; das grausame Spiel, dem beizuwohnen er genötigt sein würde, gefiel ihm nicht.
Als er das Krankenzimmer betrat, hätte der Offiziersanwärter beinahe die Besinnung verloren; Neferet sprach ihm Mut zu.
»Du wirst ihre Köpfe behutsam anheben, damit ich ihnen das Heilmittel einflößen kann; anschließend werden wir sie waschen und den Raum reinigen.« Zu Anfang schloß er die Augen und hielt den Atem an; durch Neferets Ruhe gestärkt, vergaß der ungeübte Krankenpfleger jedoch allmählich seinen Ekel und konnte beglückt mit ansehen, daß der Trunk rasch wirkte. Röcheln und Schreie klangen ab; mehrere Krieger schliefen sogar ein. Einer von ihnen klammerte sich an das rechte Bein der jungen Frau. »Laßt mich los.«
»Sicher nicht, meine Schöne, eine solche Beute gibt man nicht preis. Ich werde dir Lust schenken.« Der Krankenpfleger ließ den Kopf des Kranken los, der schwer auf den Boden fiel, und schlug ihn mit einem Fausthieb ohnmächtig; die Finger erschlafften, Neferet befreite sich. »Danke.«
»Ihr … Ihr habt keine Angst bekommen?«
»Doch, natürlich.«
»Wenn Ihr wollt, werde ich sie alle auf dieselbe Art betäuben!«
»Nur, wenn es nötig ist.«
»Woran leiden diese hier?«
»Ruhr.«
»Ist das ernst?«
»Ein Leiden, das ich kenne und das ich heilen kann.«
»In Asien trinken sie fauliges Wasser; ich, für meinen Teil, ziehe es vor, die Kaserne zu fegen.« Sobald für peinliche Reinlichkeit gesorgt war, verordnete Neferet ihren Kranken Tränke auf der Grundlage von Koriander[39], um die Krämpfe zu besänftigen und die Gedärme zu läutern. Dann zerrieb sie Granatwurzeln mit Bierhefe, seihte das Gemisch durch ein Leintuch, um es eine Nacht ruhen zu lassen. Auch die gelbe, mit Kernen von glänzendem Rot gefüllte Frucht spendete ein wirkungsvolles Heilmittel gegen Durchfall und Ruhr.
Neferet behandelte die akutesten Fälle mit einem aus Honig, vergorenen Schleimstoffen[40], Süßbier und Salz zusammengesetzten Einlauf, den sie mit einem kupfernen Horn, dessen feines Ende die Form eines Schnabels hatte, in den After verabreichte. Fünf Tage nachhaltiger Pflege erbrachten ausgezeichnete Ergebnisse. Kuhmilch und Honig, die einzigen zulässigen Nahrungsmittel, brachten die Kranken schließlich wieder auf die Beine.
Sechs Tage, nachdem Neferet ihr Amt angetreten hatte, besuchte der Oberste Arzt Neb-Amun in bester Laune die Gesundheitseinrichtungen der Kaserne. Er zeigte sich befriedigt und beendete seine Besichtigung mit dem Krankensaal, wo die während des letzten Asienfeldzugs von Ruhr heimgesuchten Krieger abgesondert worden waren. Am Ende ihrer Widerstandskraft und völlig erschöpft, würde die junge Frau ihn anflehen, ihr eine andere Stellung zu geben, und einwilligen, in seinem Stab zu arbeiten. Ein Jungkrieger fegte die Schwelle des Siechensaals, dessen Tür weit offenstand; Durchzug läuterte den leeren und mit Kalk ausgestäubten Raum.
»Ich muß mich verlaufen haben«, sagte Neb-Amun zu dem Soldaten, »wißt Ihr, wo die Heilkundige Neferet arbeitet?«
»Im ersten Schreibzimmer zu Eurer Linken.« Die junge Frau war gerade dabei, Namen auf einen Papyrus zu schreiben. »Neferet! Wo befinden sich die Kranken?«
»Auf dem Weg der Genesung.«
»Unmöglich.«
»Hier ist die Aufstellung der Siechen mit der jeweiligen Behandlungsart und dem Zeitpunkt ihrer Entlassung aus dem Krankensaal.«
»Aber wie …«
»Ich danke Euch, mir diese Aufgabe anvertraut zu haben, die mir erlaubt hat, die Gültigkeit unserer Heilverfahren und Verabreichungen nachzuprüfen.« Sie äußerte sich ohne Feindseligkeit, mit einem sanften Leuchten im Blick. »Ich glaube, daß ich mich getäuscht habe.«
»Wovon sprecht Ihr?«
»Ich habe mich wie ein Dummkopf betragen.«
»Ihr steht gleichwohl nicht in diesem Ruf, Neb-Amun.«
»Hört mich an, Neferet …«
»Ihr werdet schon morgen einen vollständigen Bericht erhalten; wolltet Ihr so freundlich sein, mir so rasch als möglich meine nächste Bestallung anzugeben?«
Monthmose barst vor Zorn. Im großen Herrenhaus würde nicht ein Diener sich zu rühren wagen, solange die kalte Wut des Vorstehers der Ordnungskräfte sich nicht besänftigt hätte. Während solcher Zeiten äußerster Anspannung juckte ihm der Kopf, und er kratzte sich bis aufs Blut.
40
Pflanzenschleim; pflanzliche Substanzen (wie etwa Gummi arabicum), die auch als Dickungsmittel verwendet werden.