Branir setzte seinen Weg fort. Am Eingang des Dorfes begegnete er einem Ochsengespann; eines der Tiere war schwarz, das andere weiß mit braunen Flecken. Unter das hölzerne Joch gezwungen, das auf dem Stirnbein an den Hörnern auflag, schritten sie gemächlich vorwärts.
Vor einem der Lehmhäuser molk ein kauernder Mann eine Kuh, deren Hinterbeinen er Fesseln angelegt hatte. Sein Gehilfe, ein junger Knabe, goß die Milch in einen irdenen Krug.
Branir entsann sich gerührt der Kuhherde, die er einst gehütet hatte; sie hatten »guter Rat«, »Taube«, »Wasser der Sonne« oder »glückliche Überschwemmung« geheißen. Ein Segen für den, der sie besaß, verkörperte die Kuh Schönheit und Sanftheit. In den Augen eines Ägypters gab es kein begehrenswerteres Tier; mit seinen großen Ohren vernahm es die Musik der Sterne, die, wie es selbst, unter den Schutz der Göttin Hathor gestellt waren. »Welch ein herrlicher Tag«, sang oftmals der Kuhhirte, »der Himmel ist mir gewogen und meine Pflicht süß wie der Honig.«[6] Gewiß, der Aufseher der Felder hatte ihn des öfteren zur Ordnung gerufen und ihn aufgefordert, sich zu sputen und das Vieh anzutreiben, statt herumzutrödeln. Und wie gewöhnlich hatten die Kühe ihren Weg gewählt, ohne ihren Gang zu beschleunigen. Der alte Heilkundige hatte beinahe all diese schlichten Begebenheiten vergessen, dieses Dasein ohne Überraschungen und den heiteren Frieden des Alltags, in dem der Mensch nur ein Anblick unter vielen war; die Gesten wiederholten sich Jahrhundert um Jahrhundert, die Nilschwelle und die Ebbe bildeten das stete Ebenmaß von Menschengeschlechtern … Plötzlich brach eine mächtige Stimme die Ruhe der Ortschaft. Der öffentliche Ankläger rief die Bevölkerung zu Gericht, während der Büttel[7], der die Sicherheit gewährleisten und der Ordnung Achtung verschaffen sollte, eine Frau packte, die entschieden ihre Unschuld beteuerte.
Das Hohe Gericht hatte sich im Schatten einer Sykomore eingerichtet; den Vorsitz führte ein Richter von einundzwanzig Jahren, der das Vertrauen der Ältesten besaß. Für gewöhnlich ernannten die Oberen allerdings einen Mann reifen Alters, der mit gründlicher Erfahrung ausgestattet und für seine Entscheidungen bezüglich seiner Güter – sofern er reich war – und seiner Person – wenn er nichts besaß – vollends mündig war; daher auch herrschte an Anwärtern für dieses Amt, und sei es das eines niederen Landrichters, kein Überfluß. Jeder bei einem Vergehen ertappte Gerichtsbeamte wurde strenger bestraft als ein Mörder; eine gesetzestreue Ausübung der Rechtspflege verlangte dies. Paser hatte keine Wahl gehabt; aufgrund seiner entschiedenen Wesensart und seines ausgeprägten Sinns für Redlichkeit war er einstimmig vom Ältestenrat erwählt worden. Wenngleich er noch sehr jung war, legte der Richter sicheren Sachverstand an den Tag, indem er jeden Fall mit äußerster Sorgfalt bearbeitete. Recht groß und eher schmal, mit seinem dunkelblonden Haar, der breiten, hohen Stirn, seinen grünen, ins Kastanienbraune stechenden Augen und seinem wachen Blick beeindruckte Paser durch seine Ernsthaftigkeit; weder Zorn noch Tränen noch Verführung konnten ihn in die Irre führen. Er hörte zu, erforschte, suchte und faßte seinen Gedanken erst zum Ende langer und geduldiger Ermittlungen in Worte. Im Dorf verwunderte man sich manchmal angesichts solcher Strenge, doch man beglückwünschte sich zu seiner Liebe zur Wahrheit und seinem Geschick, Streitfälle beizulegen. Viele fürchteten ihn, wußten sie doch, daß er Halbheiten ausschloß und sich zur Nachsicht wenig geneigt zeigte; doch keine seiner Entscheidungen war bisher in Frage gestellt worden. Zu Pasers Rechten und Linken saßen die Geschworenen, acht an der Zahclass="underline" der Bürgermeister, seine Gemahlin, zwei Landwirte, zwei Handwerker, eine betagte Witwe und der Vorsteher der Bewässerungen. Alle hatten die Fünfzig überschritten. Der Richter eröffnete die Versammlung, indem er Maat anrief, die Göttin, die die Weltordnung[8] verkörperte, nach der das Rechtswesen der Menschen sich zu richten versuchen mußte; dann brachte er die Anklageschrift gegen die junge Frau zur Verlesung, welche der Büttel dem hohen Gericht gegenüber mit entschiedener Hand festhielt. Eine ihrer Freundinnen bezichtigte sie, einen Spaten gestohlen zu haben, der ihrem Gatten gehört habe. Paser bat die Klägerin, ihre Anschuldigung mit lauter Stimme zu bestätigen, und forderte die Beklagte auf, ihre Verteidigung vorzutragen. Die erste äußerte sich mit Mäßigung, die zweite stritt heftig ab. Gemäß dem seit dem Anbeginn in Kraft befindlichen Gesetz stellte sich kein Fürsprecher zwischen den Richter und die von einer Verhandlung unmittelbar Betroffenen. Paser befahl der Beklagten, sich zu beruhigen. Die Klägerin bat ums Wort, um sich über die Nachlässigkeit der Gerichtsbehörden zu verwundern; hatte sie den Sachverhalt nicht bereits einen Monat zuvor dem Schreiber, der Paser beisaß, geschildert, ohne indes die Einberufung des Gerichts zu erwirken? Sie war gezwungen gewesen, ein zweites Gesuch einzureichen. Die Diebin hätte somit genügend Zeit gehabt, das Beweisstück verschwinden zu lassen. »Gibt es einen Zeugen für diesen Vorwurf?«
»Mich selbst«, antwortete die Klägerin. »Wo ist der Spaten versteckt worden?«
»Bei der Beschuldigten.«
Mit einem Ungestüm, das den Richter beeindruckte, stritt letztere erneut alles ab. Ihre Aufrichtigkeit schien offenkundig.
»Nehmen wir auf der Stelle eine Durchsuchung vor«, verlangte Paser.
Ein Richter mußte sich zum Ermittler wandeln, die Behauptungen und die Hinweise an den Tatorten in eigener Person nachprüfen.
»Ihr habt nicht das Recht, mein Haus zu betreten«, schrie die Beklagte auf.
»Gesteht Ihr?«
»Nein! Ich bin unschuldig!«
»Vor diesem Gericht zu lügen, ist ein schlimmes Vergehen.«
»Sie ist es, die gelogen hat!«
»In diesem Fall wird ihre Strafe streng ausfallen. Bekräftigt Ihr Eure Anschuldigungen?« fragte Paser, wobei er der Klägerin fest in die Augen schaute.
Sie bejahte.
Vom Büttel geführt, begab sich das Gericht vor Ort. Der Richter nahm höchstselbst die Hausdurchsuchung vor. Er entdeckte den Spaten im Keller, in Lappen eingewickelt und hinter irdenen Ölkrügen verborgen. Die Schuldige brach zusammen. Dem Gesetz gemäß verurteilten sie die Geschworenen dazu, der Geschädigten das Zweifache ihres Diebesguts, also zwei neue Spaten, zu entrichten. Darüber hinaus war die Lüge unter Eid mit lebenslanger Zwangsarbeit zu ahnden, der Höchststrafe bei einer Strafsache. Die Frau würde gezwungen sein, viele Jahre ohne eigenen Gewinn auf den Feldern des örtlichen Tempels zu arbeiten.
Bevor er die Geschworenen entließ, die es eilig hatten, wieder ihren Tätigkeiten nachzugehen, fällte Paser einen unerwarteten Spruch: Fünf Stockschläge für den beisitzenden Schreiber, der schuldig war, eine Gerichtssache verschleppt zu haben. Da den Weisen zufolge das Ohr des Menschen auf dessen Rücken saß, würde er der Stimme des Stocks lauschen und sich in Zukunft weniger nachlässig zeigen. »Würde der Richter mir Gehör schenken?« Stutzig wandte Paser sich um. Diese Stimme … War es möglich? »Ihr!« Branir und Paser umarmten sich herzlich.
6
Dieser Gesang und die Kuhnamen sind auf den Basreliefs der Gräber des Alten Reichs eingeschrieben.
8
Das heißt: Wahrheit, Gerechtigkeit, Recht und Ordnung. Maat wird als sitzende Frau mit einer Straußenfeder auf dem Haupt versinnbildlicht; sie verkörpert die himmlische Harmonie.