»Unnötig, Sethi.«
»Die Ertrunkenen werden vielleicht zu Seligen, aber sie sind gleichwohl ertrunken. Du hast versprochen, Ascher unter Anklage zu stellen.«
»Ohne dich würde ich davon absehen.«
»Weil du nicht mehr du selbst bist.«
»Im Gegenteil. Ich bin nur noch ich selbst, auf die allerschlimmste Einsamkeit beschränkt.«
»Du wirst vergessen.«
»Du verstehst das nicht.«
»Die Zeit ist das einzige Heilmittel.«
»Sie wird nichts auslöschen.« Kaum berührte der Kahn das Ufer, stieg die lärmende Menge, Esel, Schafe und Ochsen vor sich hertreibend, auch schon an Land. Die beiden Freunde ließen die Woge verebben, stiegen dann eine Treppe hinauf und gingen bis zum Amtsgebäude des Obersten Richters von Memphis. Der für den Briefverkehr zuständige Beamte hatte keinerlei an Paser gerichtete Nachrichten erhalten. »Kehren wir nach Memphis zurück«, verlangte Sethi. »Hast du es so eilig?«
»Ich brenne darauf, Ascher wiederzusehen. Du könntest vielleicht deine bisherigen Nachforschungen für mich zusammenfassen.«
Mit eintöniger Stimme gab Paser die Schritte seiner Ermittlung wieder. Sethi lauschte aufmerksam. »Wer hat dir nachgestellt?«
»Keine Ahnung.«
»Handelt es sich um die Vorgehensweise des Vorstehers der Ordnungskräfte?«
»Könnte sein.«
»Bevor wir Theben verlassen, suchen wir noch Kani auf.«
Fügsam willigte Paser ein. Allem gegenüber gleichgültig, löste er sich langsam von der Wirklichkeit. Neferets Verweigerung nagte an seiner Seele. Kani arbeitete nicht mehr allein in seinem Garten, den er zur Bewässerung inzwischen mit mehreren Schopfhebern ausgestattet hatte. Emsige Betriebsamkeit herrschte in jenen Beeten, die dem Gemüse vorbehalten waren. Der Gärtner hingegen umsorgte seine Arzneipflanzen. Vierschrötig, die Haut zusehends faltiger und die Bewegungen behäbiger, hielt er dem Gewicht der großen Stange stand, an deren Enden zwei schwere Töpfe voll Wasser hingen. Er gönnte niemandem das Vorrecht, seine Schützlinge zu nähren.
Paser stellte ihm Sethi vor. Kani musterte ihn vorsichtig.
»Euer Freund?«
»Ihr könnt völlig frei vor ihm sprechen.«
»Ich habe weiter planmäßig nach dem Altgedienten gesucht. Schreiner, Zimmerleute, Wasserträger, Weißwäscher, Bauern … ich lasse keine Tätigkeit außer acht. Eine dürftige Spur: Unser Mann war für einige Tage Wagentischler, bevor er verschwand.«
»So dürftig nicht«, berichtigte Sethi. »Er ist demnach noch am Leben!«
»Hoffen wir es.«
»Sollte auch er beseitigt worden sein?«
»In jedem Fall ist er unauffindbar.«
»Fahrt fort«, empfahl Paser. »Der fünfte Altgediente ist noch immer von dieser Welt.«
Gab es eine lieblichere Süße als die der thebanischen Abende, wenn der Nordwind Kühle unter die Lauben und Rankenwerke trug, wo man Bier trinkend den Sonnenuntergang bewunderte? Die Müdigkeit der Leiber schwand, die Pein der Seelen besänftigte sich, die Schönheit der Göttin des Schweigens offenbarte sich im rotglühenden Westen. Ibisse durchzogen das Dämmerlicht.
»Morgen, Neferet, breche ich wieder nach Memphis auf.«
»Eurer Arbeit wegen?«
»Sethi ist Zeuge eines Amtsvergehens geworden. Ich ziehe es vor, Euch nicht mehr darüber zu sagen, zu Eurer eigenen Sicherheit.«
»Ist die Gefahr denn so erheblich?«
»Die Streitkräfte sind beteiligt.«
»Denkt an Euch selbst, Paser.«
»Solltet Ihr Euch etwa um mein Geschick sorgen?«
»Seid nicht bitter. Ich wünsche nichts anderes als Euer Glück.«
»Ihr allein könnt es mir gewähren.«
»Ihr seid so unbedingt, so …«
»Kommt mit mir.«
»Das ist unmöglich. Ich bin nicht vom selben Feuer wie Ihr beseelt; nehmt hin, daß ich anders bin, daß die Hast mir fremd ist.«
»Alles ist so einfach: Ich liebe Euch, und Ihr liebt mich nicht.«
»Nein, so einfach ist es nicht. Der Tag folgt nicht jählings auf die Nacht, und eine Jahreszeit nicht auf die andere.«
»Solltet Ihr mir Hoffnung geben?«
»Mich zu binden, hieße lügen.«
»Da seht Ihr es.«
»Eure Gefühle sind derart heftig, derart ungeduldig … Ihr könnt nicht verlangen, daß ich sie mit gleicher Glut beantworte.«
»Bemüht Euch nicht, Euch zu rechtfertigen.«
»Ich sehe in mir selbst nicht klar, wie könnte ich Euch da Gewißheit bieten?«
»Wenn ich fortgehe, werden wir uns nie wiedersehen.«
Paser entfernte sich mit langsamen Schritten, Worte ersehnend, die nicht ausgesprochen worden waren.
Gerichtsschreiber Iarrot hatte folgenschwere Fehler vermieden, indem er keinerlei Verantwortung übernommen hatte. Das Viertel war ruhig, keine ernsten Missetaten waren begangen worden. Paser erledigte die anstehenden Dinge und begab sich dann zum Vorsteher der Ordnungskräfte, der ihn einbestellt hatte. Monthmose war freundlicher als gewöhnlich. »Werter Richter! Entzückt, Euch wiederzusehen. Ihr wart auf Reisen?« erkundigte er sich beflissen, mit seiner näselnden Stimme.
»Es ging nicht anders.«
»Euer Gerichtsbezirk war einer der friedlichsten; Euer Ruf zeitigt seine Früchte. Man weiß, daß Ihr in den Dingen des Rechts keine Zugeständnisse kennt. Ohne Euch zu nahe treten zu wollen, Ihr erscheint mir müde.«
»Völlig belanglos.«
»Fein, fein …«
»Und der Grund Eurer Einbestellung?«
»Eine heikle und … bedauerliche Sache. Ich habe Euren Vorschlag, was den verdächtigen Kornspeicher angeht, wortgetreu befolgt. Entsinnt Euch: Ich zweifelte an seiner Wirksamkeit. Unter uns, ich hatte nicht unrecht.«
»Ist der Verwalter geflohen?«
»Nein, nein … Ich habe ihm nichts vorzuhalten. Er befand sich an Ort und Stelle, als sich der Zwischenfall zugetragen hat.«
»Welcher Zwischenfall?«
»Die Hälfte des Vorrates ist während der Nacht gestohlen worden.«
»Ihr scherzt?«
»Leider nein! Das ist die traurige Wahrheit.«
»Eure Männer haben ihn doch bewacht!«
»Ja und nein. Eine Rauferei, unweit der Kornhäuser, hat sie gezwungen, unverzüglich einzuschreiten. Wer könnte es ihnen verargen? Als sie ihren Wachdienst wieder aufnahmen, haben sie den Diebstahl festgestellt. Verwunderlich ist, daß der Zustand des Speichers nun dem Bericht des Verwalters entspricht.«
»Und die Schuldigen?«
»Keine ernsthafte Spur.«
»Keine Zeugen?«
»Das Viertel war menschenleer, und das Unternehmen wurde flink durchgeführt. Es wird nicht leicht sein, die Namen der Diebe ausfindig zu machen.«
»Ich nehme an, Eure besten Kräfte sind auf die Angelegenheit angesetzt.«
»Da könnt Ihr Euch auf mich verlassen.«
»Unter uns, Monthmose, welche Meinung habt Ihr von mir?«
»Nun … Ich betrachte Euch als einen sehr pflichtbewußten Richter.«
»Räumt Ihr mir ein wenig Klugheit ein?«
»Mein teurer Paser, Ihr unterschätzt Euch.«
»In dem Fall wißt Ihr sicher, daß ich Eurer Geschichte nicht den geringsten Glauben schenke.«
Zum wiederholten Male einem ihrer häufigen Angstzustände ausgesetzt, hatte Dame Silkis sich der aufmerksamen Pflege eines eigens für seelische Störungen geschulten Heilkundigen und Traumdeuters anheimgegeben. Sein ganz in Schwarz gestrichenes Behandlungszimmer war in Dunkelheit getaucht. Jede Woche streckte sie sich dort auf einer Matte aus, erzählte ihm ihre Alpträume und erbat seinen Rat. Der Traumdeuter war ein seit vielen Jahren in Memphis niedergelassener Syrer; er bediente sich zahlloser Zauberbücher und Traumbücher[64] und verstand seiner Kundschaft aus vornehmen Damen und wohlhabenden Gemeinen zu schmeicheln. Daher auch war sein Entgelt entsprechend hoch; brachte er diesen armen Geschöpfen mit zartem Gemüt denn nicht regelmäßig Trost und Stärkung? Der Deuter legte Nachdruck auf die unbegrenzte Dauer der Behandlung; hörte man denn je auf zu träumen? Zudem war er allein imstande, den Sinn der Bilder und Hirngespinste auszulegen, die ein schlummerndes Hirn peinigten. Sehr behutsam wies er die meisten Annäherungsversuche seiner an mangelnder Zuneigung leidenden Kundinnen zurück und gab nur den noch anziehenden Witwen nach. Silkis kaute an ihren Nägeln. »Habt Ihr Euch mit Eurem Gemahl gestritten?«
64
Manche dieser Traumbücher sind wiedergefunden worden; sie benennen die Art der Träume und liefern jeweils eine Deutung dazu.