»Wenn er gestorben wäre, hätte ich es mit meiner Wünschelrute gespürt.«
»Da er heimlich untergetaucht ist und somit auf seinen Ruhesold verzichtet hat, ist er genötigt, für sein Überleben zu arbeiten. Kanis Nachforschungen waren planvoll und gründlich, jedoch ergebnislos.« Von der Terrasse aus schaute Paser auf Memphis. Mit einem Mal schien ihm der lautere Frieden der großen Stadt bedroht, als legte sich eine heimtückische Gefahr über sie. Falls Memphis betroffen war, würde Theben bald erliegen, und schließlich das ganze Land. Von einem Unwohlsein übermannt, setzte er sich.
»Auch du nimmst es wahr.«
»Welch grauenhaftes Gefühl!«
»Es verstärkt sich.«
»Sind wir nicht Opfer einer Täuschung?«
»Du hast das Übel tief in deinem Innern gespürt. Zu Anfang, es ist schon einige Monate her, glaubte ich an einen Wahntraum. Es ist zurückgekehrt, immer häufiger und immer bedrückender.«
»Worum handelt es sich?«
»Eine Geißel, deren Wesen uns noch unbekannt ist.« Der Richter schauderte. Sein Unwohlsein ließ nach, doch sein Körper bewahrte die Erinnerung daran. Ein Wagen hielt vor dem Haus. Sethi sprang heraus und stieg zum ersten Stock hinauf. »Scheschi ist als gebürtiger Beduine vor Jahren Ägypter geworden! Ich verdiene doch wohl ein Bier? Vergebt mir, Branir, ich habe es versäumt, Euch zu begrüßen.«
Paser bediente seinen Freund, der sich ausgiebig erfrischte. »Während ich von der Grenzfeste zurückfuhr, habe ich nachgedacht. Qadasch ist Libyer; Scheschi ein Beduine syrischer Herkunft, Hattusa eine Hethiterin! Alle drei sind Fremde. Qadasch ist ein ehrbarer Zahnheilkundiger geworden, gibt sich jedoch wollüstigen Tänzen mit seinen Landesgenossen hin; Hattusa mag ihr neues Dasein nicht und bewahrt ihre ganze Zuneigung für ihr Volk: Scheschi, der Einzelgänger, betreibt befremdliche Forschungen. Da haben wir die Verschwörung! Hinter ihnen steht Ascher und lenkt sie.«
Branir hüllte sich in Schweigen. Paser fragte sich, ob Sethi nicht soeben die Lösung des Rätsels geliefert hatte, das sie so ängstigte. »Du gehst zu schnell zu Werke. Wie könnte man sich irgendeine Verbindung zwischen Hattusa und Scheschi, zwischen ihr und Qadasch vorstellen?«
»Haß auf Ägypten.«
»Sie verabscheut Ascher.«
»Was weißt du schon?«
»Sie hat es mir versichert, und ich habe ihr geglaubt.«
»Leg deine Arglosigkeit ab, Paser, deine Einwände sind kindisch! Sei unvoreingenommen, und du wirst ohne Zögern deine Schlüsse ziehen. Hattusa und Ascher sind die denkenden Köpfe, Qadasch und Scheschi die Ausführenden. Die Waffen, die der Metallkundler fertigt, sind nicht für unser Heer bestimmt.«
»Eine Empörung?«
»Hattusa wünscht einen feindlichen Einfall, Ascher setzt ihn ins Werk.«
Gespannt, sein Urteil zu vernehmen, wandten Sethi und Paser sich Branir zu.
»Ramses’ Macht ist nicht geschwächt. Ein Versuch dieses Ausmaßes wäre zum Scheitern verurteilt.«
»Und dennoch bahnt er sich an!« meinte Sethi. »Wir müssen handeln, diesen Aufruhr im Keim ersticken. Wenn wir auf dem Rechtswege ein Verfahren gegen sie einleiten, werden sie Angst bekommen, da sie sich enttarnt wüßten.«
»Falls unsere Beschuldigungen als unbegründet und verleumderisch bewertet werden, würden wir schwer bestraft, und sie hätten freie Bahn. Wir müssen zielgenau und hart zuschlagen. Wenn wir den fünften Altgedienten zur Hand hätten, wäre Heerführer Aschers Glaubwürdigkeit zutiefst erschüttert.«
»Willst du erst das Unheil abwarten?«
»Gib mir eine Nacht zum Überlegen, Sethi.«
»Nimm dir ein Jahr Zeit, wenn du es wünschst! Du bist nicht mehr in der Lage, ein Gericht zusammenzurufen.«
»Diesmal«, sagte Branir, »kann Paser meine Wohnung nicht mehr zurückweisen. Er muß seine Schulden tilgen und sein Amt schnellstmöglich wieder ausüben.«
Paser ging allein durch die Nacht. Das Leben packte ihn an der Kehle, nötigte ihn, seine Aufmerksamkeit ganz auf die Windungen und Schlingen einer Verschwörung zu richten, deren Tragweite sich ihm Stunde um Stunde deutlicher erschloß, während er doch an die geliebte und unerreichbare Frau denken wollte. Er entsagte seinem Glück, der Gerechtigkeit jedoch nicht.
Sein Schmerz machte ihn reifer; eine Kraft im tiefsten Innern seiner selbst weigerte sich zu erlöschen. Eine Kraft, welche er in den Dienst all der Wesen stellen wollte, die er innig liebte. Der Mond, »der Kämpfer«, war ein Messer, das das Gewölk durchschnitt, oder aber ein Spiegel, der die Schönheit der Gottheiten zurückwarf. Er bat ihn um seine Macht, flehte, daß sein Blick so durchdringend werden möge wie der der Sonne der Nacht. Seine Gedanken kehrten zum fünften Altgedienten zurück. Welchen Beruf übte ein Mann aus, der unbemerkt bleiben wollte? Paser zählte die Betätigungen der Einwohner von Westtheben auf und verwarf sie eine nach der anderen. Vom Abdecker bis zum Sämann standen alle in Beziehung mit den Leuten aus dem Volk; Kani hätte irgendwann eine Auskunft über ihn erhalten müssen. Außer in einem Fall.
Ja, es gab einen Beruf, der so einsiedlerisch und so auffallend war, daß er die vollkommenste aller Tarnungen bot.
Paser hob den Blick zum Himmel, zu diesem Gewölbe aus Lapislazuli, das von Toren in Form von Sternen durchbrochen war, durch die das Licht fiel. Wenn ihm geglückt war, dieses in sich aufzunehmen, dann wußte er jetzt, wo er den fünften Altgedienten finden würde.
34. Kapitel
Das Amtszimmer, das man dem neuen Schatzaufseher der Kornhäuser zugeteilt hatte, war weit und hell; vier eigens geschulte Schreiber würden fortwährend unter seinem Befehl stehen. Bel-ter-an, mit einem neuen Schurz bekleidet, darüber ein leinenes Hemd mit kurzen Ärmeln, das ihm schlecht stand, strahlte vor Freude. Sein Erfolg als Kaufmann hatte ihn tief beglückt; und die Ausübung von Amtsgewalt hatte ihn schon angezogen, seit er lesen und schreiben konnte. Aufgrund seiner bescheidenen Herkunft und seiner mittelmäßigen Erziehung war sie ihm stets unerreichbar erschienen. Doch seine verbissene Arbeit hatte der Verwaltung seinen wahren Wert vor Augen geführt, und er war fest entschlossen, jetzt seine ganze Schaffenskraft zu entfalten.
Nachdem er seine Gefolgsleute begrüßt und seine Vorliebe für Ordnung und Pünktlichkeit unterstrichen hatte, nahm er den ersten Vorgang, den ihm sein Vorgesetzter anvertraut hatte, in Augenschein: eine Aufstellung der säumigen Steuerpflichtigen. Er, derseine Abgaben stets fristgerecht entrichtete, überflog die Namen mit gewisser Belustigung. Ein Großgrundbesitzer, ein Schreiber des Heeres, der Vorsteher einer Schreinerwerkstatt und … der Richter Paser! Der Prüfer, der den Umfang der Überschreitung sowie die Höhe der Buße vermerkt hatte, und der Vorsteher der Ordnungskräfte höchstselbst hatten die gerichtlichen Siegel an des Amtsmannes Tür angebracht!
Zur Stunde des Mittagsmahls begab Bel-ter-an sich zum Gerichtsschreiber Iarrot und fragte ihn, wo der Richter weilte. Bei Sethi traf der Beamte lediglich auf den Offizier der Streitwagentruppe und dessen Geliebte; Paser war soeben zum Hafen der leichten Segler aufgebrochen, welche die Verbindung zwischen Memphis und Theben sicherten. Bel-ter-an konnte den Reisenden gerade noch rechtzeitig erreichen.
»Ich bin von dem Verhängnis unterrichtet, das Euch zugestoßen ist.«
»Eine Unachtsamkeit meinerseits.«
»Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Die Buße ist aberwitzig im Vergleich zum Vergehen. Geht gerichtlich dagegen vor.«