Pasers Führer folgte der Umfriedungsmauer bis zu einer kleinen Tür, die mit einem kupfernen Rad versehen war, welches einen Schieber bediente; indem sie daran drehten, lösten die beiden Männer einen Schwall Wassers aus, mit dem sie sich das Gesicht, die Hände und die Füße reinigten. Der Priester bat Paser, im Dämmerlicht an der Schwelle eines Säulengangs zu warten.
Einsiedler, in weißes Leinen gekleidet, traten aus ihren am Rande des Heiligen Sees erbauten Behausungen; aus dem See schöpften sie das Wasser für ihre morgendlichen Waschungen. Sich zu einem feierlichen Zug zusammenfindend, legten sie Feldfrüchte und Brot auf den Altären nieder, während der Hohepriester, der im Namen PHARAOS[67] wirkte, eine Lampe entfachte, das Siegel des Naos erbrach, in dem die Statue des Gottes ruhte, Weihrauch streute und gleichzeitig mit allen anderen Hohenpriestern, die zur gleichen Stunde dasselbe Ritual in allen Tempeln Ägyptens vollzogen, die Formel »Wache auf in Frieden« sprach. In einem der Säle des Inneren Tempels waren neun Männer versammelt. Der Wesir, der Hüter der Maat, der Oberste Verwalter der Beiden Weißen Häuser[68], der Zuständige der Kanäle und Vorsteher der Wasserbauten, der Oberste Verwalter der Schriften, der Oberste Verwalter der Felder, der Vorsteher der Geheimen Sendungen, der Schreiber der Liegenschaften und der Kammerherr des Königs bildeten den Rat der Neun[69]Freunde von Ramses dem Großen. Jeden Monat besprachen sie sich an diesem geheimen Ort, fernab ihrer Amtshäuser und ihrer Bediensteten. Der Friede und die lautere Stille des Heiligtums kam ihren Überlegungen zugute. Ihre Mühsal erschien ihnen nämlich zunehmend beschwerlicher, seitdem PHARAO ungewöhnliche Weisungen erteilt hatte, als ob das Reich in höchster Gefahr wäre. Ein jeder mußte in seiner Verwaltung eine gezielte Überprüfung vornehmen, um sich der Redlichkeit seiner hochrangigsten Gefolgsleute zu versichern. Ramses hatte rasche Ergebnisse verlangt. Unregelmäßigkeiten und Nachlässigkeit sollten mit letzter Kraft verfolgt, die unfähigen Beamten davongejagt werden. Jeder der Neun Freunde hatte bei Unterredungen mit PHARAO den Herrscher gedankenverloren, ja gar besorgt vorgefunden.
Nach einer Nacht fruchtbarer Gespräche gingen die neun Männer auseinander. Ein Priester kam hinzu und flüsterte Bagi einige Worte ins Ohr, worauf dieser sich zur Schwelle des Säulensaals wandte. »Habt Dank, daß Ihr gekommen seid, Richter Paser. Ich bin der Wesir.«
Durch die Erhabenheit der Stätte bereits beeindruckt, war Paser es noch um so mehr durch diese Begegnung. Ihm, dem niederen Richter von Memphis, kam die ungeheure Bevorzugung zuteil, von Angesicht zu Angesicht mit dem Wesir Bagi zu sprechen, dessen sagenumwobene Unerbittlichkeit die gesamte Hierarchie erschreckte.
Bagi war größer als Paser, hatte ein längliches, strenges Gesicht und eine verschleierte, etwas rauhe Stimme. Sein Tonfall war kalt, beinahe schroff. »Ich legte Wert darauf, Euch hier zu sehen, auf daß unsere Zusammenkunft geheim bleiben möge. Falls Ihr sie als gesetzeswidrig betrachtet, könnt Ihr Euch zurückziehen.«
»Ich höre Euch zu.«
»Seid Ihr Euch der Gewichtigkeit der Verhandlung bewußt, die Ihr führt?«
»Heerführer Ascher ist eine hohe Persönlichkeit, doch ich glaube, sein Amtsvergehen bewiesen zu haben.«
»Seid Ihr davon überzeugt?«
»Sethis Zeugenaussage ist unbestreitbar.«
»Ist er nicht Euer bester Freund?«
»Das trifft zu, jedoch beeinflußt diese Freundschaft mein Urteil in keiner Weise.«
»Der Fehler wäre unverzeihlich.«
»Die Sachverhalte scheinen mir belegt.«
»Ist es nicht an den Geschworenen, darüber zu entscheiden?«
»Ich werde mich ihrem Beschluß beugen.«
»Indem Ihr gegen Heerführer Ascher vorgeht, zieht Ihr unsere Verteidigungsmaßnahmen in Asien mit hinein. Selbstvertrauen und Zucht unserer Truppen werden dabei Schaden nehmen.«
»Wenn die Wahrheit nicht aufgedeckt worden wäre, wäre das Land einer weit schlimmeren Gefahr ausgesetzt worden.«
»Hat man versucht, Eure Untersuchung zu behindern?«
»Die Streitkräfte haben Fallschlingen auf meinem Weg ausgelegt, und ich bin mir sicher, daß Morde begangen worden sind.«
»Der fünfte Altgediente.«
»Die fünf Altgedienten wurden gewaltsam beseitigt, drei davon in Gizeh, die beiden Überlebenden in ihren Dörfern. Das ist meine Überzeugung. Es obliegt dem Ältesten der Vorhalle, die Ermittlung fortzusetzen, aber …«
»Aber?«
Paser zögerte. Der Wesir stand vor ihm. Sich leichtfertig auszusprechen, würde ihm zum Verhängnis werden, seinen Gedanken zu verhehlen, käme der Lüge gleich. All jene, die Bagi zu täuschen versucht hatten, gehörten seiner Verwaltung nicht mehr an.
»Aber ich habe nicht den Eindruck, daß er sie mit der nötigen Zähigkeit durchführen wird.«
»Solltet Ihr den höchsten Gerichtsbeamten von Memphis der Unfähigkeit bezichtigen?«
»Ich habe das Gefühl, der Kampf gegen die Finsternis verlockt ihn kaum noch. Seine Erfahrung läßt ihn derart viele besorgniserregende Folgen vorausahnen, daß er es vorzieht, sich abseits zu halten, statt sich auf gefahrvolles Gebiet vorzuwagen.«
»Der Tadel ist streng. Glaubt Ihr ihn verstrickt?«
»Lediglich mit wichtigen Persönlichkeiten verbunden, die er nicht zu verdrießen wünscht.«
»Das entfernt uns weit von der Gerechtigkeit.«
»In der Tat verstehe ich sie so nicht.«
»Falls Heerführer Ascher verurteilt wird, wird er Berufung einlegen.«
»Das ist sein Recht.«
»Wie auch immer der Spruch des Gerichts lauten mag, wird der Älteste der Vorhalle Euch die Gerichtsbarkeit dieses Vorgangs nicht entziehen, und er wird Euch auffordern, die richterliche Untersuchung bezüglich der dunklen Punkte fortzusetzen.«
»Erlaubt mir, daran zu zweifeln.«
»Dann tut Ihr unrecht, da ich ihm den Befehl dazu erteilen werde. Ich will Licht in seiner ganzen Klarheit, Richter Paser.«
»Sethi ist seit gestern abend zurück«, enthüllte Kem Paser. Der Richter war verblüfft. »Weshalb ist er nicht hier?«
»Er wird in der Kaserne festgehalten.«
»Das ist ungesetzlich!«
Paser eilte zur Hauptkaserne, in der er von jenem Schreiber empfangen wurde, der die Abordnung befehligt hatte.
»Ich verlange Erklärungen.«
»Wir haben uns zum Ort des Vergehens begeben. Der Offizier Sethi hat die Stätte wiedererkannt, doch wir haben vergebens nach dem Leichnam des Kundschafters gesucht. Ich hielt es für angebracht, den Offizier Sethi in Gewahrsam zu nehmen.«
»Diese Entscheidung ist unannehmbar, solange die laufende Verhandlung nicht abgeschlossen ist.« Der Schreiber erkannte die Stichhaltigkeit des Einwands an. Sethi wurde sofort freigelassen. Die beiden Freunde umarmten sich herzlich. »Hast du Mißhandlungen erlitten?«
67
PHARAO ist der einzige »Priester« Ägyptens; er allein kann die Verbindung der Gesellschaft mit dem Göttlichen aufrechterhalten. In den verschiedenen Tempeln Ägyptens wirkten die Auserwählten, wenn sie die Riten zelebrierten, im Auftrage des Königs.
69
Die Zahl 9,