Paser wurde überaus herzlich vom Gutsverwalter begrüßt. Dieser war nur zu glücklich, einen befugten Richter empfangen zu können, welcher geneigt war, ein Geheimnis aufzuklären, das das Leben der Viehhirten vergiftete. Diener wuschen ihm die Füße, boten ihm einen neuen Schurz an und machten sich dazu noch anheischig, ihm den, den er trug, zu säubern; zwei junge Burschen fütterten den Esel und den Hund. Qadasch wurde über die Ankunft des Amtmannes benachrichtigt, und man errichtete in aller Eile einen erhöhten Bretterboden mit einem rotschwarzen, von Lotossäulchen getragenen Himmel darüber; vor Sonne geschützt, würden sich hierunter Qadasch, Paser und der für die Herden zuständige Schreiber niederlassen.
Als dann der Gebieter des Anwesens erschien, mit einem langen Stab in der rechten Hand und von Trägern mit seinen Sandalen, seinem Sonnenschirm und seinem Prunkstuhl gefolgt, begannen Musikantinnen sistrum[19] und Flöte zu spielen, und junge Bäuerinnen reichten ihm Lotosblüten dar. Qadasch war ein Mann um die Sechzig mit üppiger, weißer Haarpracht; ein großer Mann mit einer auffallenden, von violetten Äderchen durchzogenen Nase, niedriger Stirn und vortretenden Wangenknochen, der sich häufig die tränenden Augen wischte.
Paser wunderte sich über die rote Verfärbung seiner Hände; ganz ohne Zweifel litt der Zahnheilkundler an einem schlechten Blutkreislauf. Qadasch maß ihn mit argwöhnischem Blick. »Also Ihr seid der neue Richter?«
»Zu Euren Diensten. Es ist erfreulich festzustellen, daß die Bauern fröhlich sind, wenn der Gebieter des Anwesens ein edles Herz besitzt und den Stab fest in Händen hält.«
»Ihr werdet es weit bringen im Leben, junger Mann, wenn Ihr die Hohen achtet.«
Der Zahnheilkundige, dessen Sprache ungelenk wirkte, war fein gewandet. Geschlitzter Prunkschurz, Wams aus Raubtierleder, eine Halskette von sieben Reihen blauer, weißer und roter Perlen sowie Armreife an den Handgelenken verliehen ihm ein stattliches Aussehen.
»Setzen wir uns«, schlug er vor. Er selbst nahm auf seinem Lehnstuhl aus bemaltem Holz Platz; Paser ließ sich auf einem kubischen Sitz nieder. Vor ihm wie vor dem Schreiber der Herden stand ein kleiner, niedriger Tisch, der für das Schreibzeug vorgesehen war.
»Eurer Erklärung zufolge«, erinnerte der Richter, »besitzt Ihr einhunderteinundzwanzig Stück Rindvieh, siebzig Schafe, sechshundert Ziegen und ebenso viele Schweine.«
»So ist es. Bei der letzten Zählung, vor zwei Monaten, fehlte ein Ochse! Nun ist aber mein Vieh von großem Wert; das magerste Stück könnte leicht gegen ein Leinengewand und zehn Sack Gerste eingetauscht werden. Ich will, daß Ihr den Dieb festsetzt.«
»Habt Ihr Eure eigene Untersuchung durchgeführt?«
»Das ist nicht meines Amtes.« Der Richter wandte sich an den auf einer Matte sitzenden Schreiber der Herden. »Was habt Ihr in Euren Verzeichnissen vermerkt?«
»Die Anzahl der Tiere, die man mir vorgezeigt hat.«
»Wen habt Ihr befragt?«
»Niemanden. Meine Arbeit besteht im Schreiben, nicht im Befragen.«
Paser würde nichts weiter aus ihm herausbringen; gereizt zog er aus seinem Korb ein mit einer feinen Gipsschicht überzogenes Täfelchen aus Sykomore, einen zugeschnittenen Binsenpinsel von fünfundzwanzig Zentimetern Länge sowie einen Wasserbecher hervor, in dem er die schwarze Tinte anrührte. Als er bereit war, gab er dem Gutsverwalter einen Wink, die Vorführung zu beginnen. Mit einem leichten Klaps auf den Hals des ungeheuren Ochsen an der Spitze trieb dieser den Zug an. Das Tier setzte sich behäbig in Bewegung, von seinen schweren und friedlichen Artgenossen gefolgt. »Herrlich, nicht wahr?«
»Ihr mögt dem Züchter meine Anerkennung ausdrücken«, empfahl Paser.
»Der Dieb muß ein Hethiter oder ein Nubier sein«, meinte Qadasch. »Es gibt viel zu viele Fremde in Memphis.«
»Ist Euer Name nicht libyschen Ursprungs?« Der Zahnheilkundler verbarg seine Verärgerung nur schlecht.
»Ich lebe seit langer Zeit in Ägypten, und ich gehöre zur besten Gesellschaft; ist der Reichtum meines Anwesens nicht der augenscheinlichste Beweis? Ich habe die hochrühmlichsten Höflinge behandelt, das solltet Ihr wissen. Bleibt an Eurem Platz!« Mit Früchten, Lauchbunden, Körben voll Lattich und Gefäßen mit Duftstoffen beladene Träger begleiteten die Tiere. Ganz offenkundig handelte es sich hier nicht um eine einfache Überprüfung der Viehzählung; Qadasch wollte den neuen Richter blenden und ihm das Ausmaß seines Vermögens vorzeigen. Brav hatte sich geräuschlos unter den Sitz seines Herrn geschlichen und betrachtete das nacheinander vorbeiziehende Vieh.
»Aus welchem Landstrich stammt Ihr?« fragte der Zahnheilkundler.
»Ich bin es, der hier die Ermittlung leitet.« Zwei angespannte Ochsen trotteten an den erhöht Sitzenden vorüber; plötzlich legte sich der ältere auf den Boden und sträubte sich weiterzugehen. »Hör auf, dich totzustellen«, sagte der Kuhtreiber; der Gescholtene sah ihn mit furchtsamem Blick an, bewegte sich jedoch nicht. »Schlag ihn«, befahl Qadasch. »Einen Augenblick«, forderte Paser, indem er von dem Bretterboden herabstieg. Der Richter streichelte die Weichen des Ochsen, besänftigte ihn und versuchte mit Hilfe des Kuhhirten, ihn wieder auf die Beine zu bringen. Beruhigt stand das Tier wieder auf. Paser ging an seinen Platz zurück. »Ihr seid recht empfindsam«, meinte Qadasch spöttisch.
»Ich verabscheue Gewalt.«
»Ist sie nicht bisweilen nötig? Ägypten hat sich gegen Eindringlinge schlagen müssen, Männer sind für unsere Freiheit gestorben. Solltet Ihr sie etwa deswegen verdammen?«
Paser richtete sein Augenmerk wieder auf den Zug der Tiere; der Schreiber der Herden zählte. Zum Abschluß der Zählung fehlte im Vergleich zu den Angaben des Eigentümers ein Ochse. »Untragbar!« brüllte Qadasch, dessen Gesicht sich purpurn verfärbte. »Man bestiehlt mich – auf meinem eigenen Grund und Boden –, und niemand will den Schuldigen verraten!«
»Eure Tiere dürften doch gekennzeichnet sein.«
»Selbstverständlich!«
»Laßt die Männer kommen, die die Brandmarkungen vorgenommen haben.«
Sie waren fünfzehn an der Zahl; der Richter sonderte sie so voneinander ab, daß sie sich nicht besprechen konnten, und verhörte sie einen nach dem anderen.
»Ich habe Euren Dieb«, verkündete er Qadasch endlich.
»Sein Name?«
»Kani.«
»Ich verlange die augenblickliche Einberufung eines Gerichts.«
Paser willigte ein. Er wählte einen Kuhtreiber, einen Ziegenhirten, den Schreiber der Herden und einen der Wächter des Gutes zu Geschworenen. Kani, der keineswegs zu fliehen beabsichtigt hatte, stellte sich aus freien Stücken vor dem Gericht ein und hielt dem zornigen Blick Qadaschs stand, der sich etwas abseits hielt. Der Beschuldigte war ein stämmiger, vierschrötiger Mann mit brauner, von tiefen Falten zerfurchter Haut. »Gesteht Ihr Eure Schuld ein?« fragte der Richter. »Nein.«
Qadasch schlug mit seinem Stab auf den Boden. »Dieser Räuber ist unverschämt! Er soll auf der Stelle gezüchtigt werden!«
»Schweigt!« befahl der Richter. »Wenn Ihr die Sitzung stört, unterbreche ich die Verhandlung sofort.« Erregt wandte der Zahnheilkundige sich ab. »Habt Ihr einen Ochsen auf den Namen Qadasch gekennzeichnet?« fragte Paser. »Ja«, antwortete Kani. »Dieses Tier ist verschwunden.«
»Er ist mir entlaufen. Ihr werdet ihn auf dem Nachbarfeld finden.«
»Wie erklärt sich diese Nachlässigkeit?«
»Ich bin kein Kuhhirte, ich bin Gärtner. Meine eigentliche Arbeit besteht darin, kleine Stücke Land zu bewässern; den ganzen Tag über schleppe ich ein Tragejoch auf den Schultern und schütte den Inhalt schwerer Krüge auf den Äckern aus. Am Abend gönne ich mir keine Ruhe; dann muß ich die empfindlichsten Pflanzen gießen, die Bewässerungsrinnen unterhalten, die Erddämme verstärken. Falls Ihr einen Beweis wünscht, untersucht meinen Nacken; er trägt die Spuren zweier Geschwüre. Das ist die Krankheit des Gärtners, nicht die eines Kuhtreibers.«