Max Real verehrte seine Mutter ebenso wie diese ihn – sie war ebenso eine vortreffliche Mutter wie er ein vortrefflicher Sohn. Er hatte sich auch beeilt, sie nicht einen Tag über das Vorkommniß der letzten Tage ununterrichtet zu lassen, und hatte ihr geschrieben, daß er bestimmt worden sei, bei dem Begräbniß William I. Hypperbone’s mit fünf Anderen einen hervorragenden Platz einzunehmen. Dazu erklärte er übrigens, daß er sich um die etwaigen Folgen des Testaments des Entschlafenen keine Kopfschmerzen mache. Die ganze Sache komme ihm nur »drollig« vor.
Max Real hatte eben das fünfundzwanzigste Jahr erreicht. Von seiner Geburt an war ihm die Anmuth, die Vornehmheit und die Eleganz des französischen Typus eigen geblieben. Von etwas über mittlerer Gestalt, hatte er braunes Kopf-und Barthaar, tiefblaue Augen und zeigte einen erhobenen Kopf ohne Stolz oder Rauhigkeit, einen lächelnden Mund und zwanglosen Gang – lauter Zeichen innerlicher Befriedigung, die ja die Mutter des freudigen und felsenfesten Selbstvertrauens ist. Dabei sprühte er sozusagen von gesunder Lebenskraft, die sich gern in Beweisen von Muth und Hochherzigkeit kundgiebt.
Die Reporter traten in das Speisezimmer ein.(S. 55.)
Nachdem er sich als talentvoller Maler erwiesen hatte, entschloß er sich, Canada mit den Vereinigten Staaten, Quebec mit Chicago zu vertauschen. Sein Vater, ein früherer Officier, hatte nur wenig hinterlassen, und wenn er sein Glück zu machen strebte. geschah das mehr um seiner Mutter als um seiner selbst willen.
Kurz, nachdem sich herausgestellt hatte, daß Max Real sich nicht in Nr. 3997 der Halsted Street befand, verlohnte es sich nicht besonders, Tommy um ihn auszufragen. Der »Chicago Globe« wußte genug, die Neugierde seiner Leser, soweit es sich um den jungen Künstler handelte, zu befriedigen. War Max Real heute nicht in Chicago, so war er doch gestern hier gewesen und würde sicherlich am 15. April wieder erscheinen, wäre es auch nur, um der Testamentseröffnung beizuwohnen und die Gruppe der »Sechs« im Saale des Auditoriums vollmachen zu helfen.
Ganz anders gestalteten sich die Dinge, als die Abgesandten des »Daily News Record« die Wohnung Harris T. Kymbale’s aufsuchten. Nach dessen Hause, Milwaukee Avenue 213, hätte man sich gar nicht zu bemühen brauchen, er wäre schon allein gekommen, um seine Collegen über alles Wissenswerthe aufzuklären.
Harris T. Kymbale war selbst Journalist, der erste Stadtberichterstatter der so verbreiteten »Tribune«. Siebenunddreißig Jahre alt, mittelgroß, von kräftiger, aber angenehmer Erscheinung, mit einer echten Spürnase ausgestattet, mit kleinen, scharf blickenden Augen, mit seinen Ohren, die geschaffen schienen, alles zu hören, und einem Munde, der es gar nicht erwarten zu können schien, alles zu wiederholen, so zeigte sich der Mann – beweglich wie Quecksilber, thätig, alles durchschauend, anregend, plauderlustig, ausdauernd, unermüdlich, energisch und als ein Freund von »Bluffs« (lustiger Streiche), den Gasconnaden der Amerikaner. Im Gefühl seiner Kraft und immer zur Thätigkeit bereit, sowie mit einer Willenskraft ausgerüstet, die stets sich in Handlungen zu übersetzen bereit war, hatte er Hagestolz bleiben wollen, wie sich das ja einem Manne geziemt, der täglich die das Privatleben schirmenden Mauern zu übersteigen versuchen muß. Im ganzen ein braver, zuverlässiger und von seinen Collegen geschätzter Mann, dem niemand das Glück mißgönnte, zu den berühmten »Sechsen« zu gehören, im Fall, daß diese sich wirklich in die irdischen Schätze William I. Hypperbone’s zu theilen hätten.
Nein, es war unnöthig, Harris T. Kymbale überhaupt um etwas zu befragen, denn er rief seinen Berufsgenossen schon bei deren Eintreten zu:
»Ja, ja, liebe Freunde, ich bin es, ich in leibhaftiger Person, der zu dem Rathe der Sechs gehört! Sie haben mich doch gestern an dem Ehrenplatze neben dem Leichenwagen marschieren sehen? – Haben Sie auch meine würdige und streng angepaßte Haltung beobachtet und wie ich mich bemühte, meine freudige Stimmung zu unterdrücken, obwohl mir ein so lustiges Begräbniß in meinem Leben noch nicht vorgekommen ist?… Wissen Sie, was ich mir dabei sagte?… Wenn der ehrbare Mann nun gar nicht todt wäre… wenn seine Stimme aus dem Sarge herausgedrungen… und er erzlebendig erschienen wäre! Und wenn das geschah, wenn sich William I. Hypperbone in ganzer Länge aufrichtete, wie ein neuer Lazarus sein Grab sprengte, ich hätte nicht den bösen Gedanken gehabt, ihm darob zu zürnen, ihm seine unzeitige Auferstehung vorzuwerfen! Man hat doch wahrlich das Recht, wieder aufzuerstehen, wenn man nicht ganz todt ist!«
So etwa äußerte sich Harris T. Kymbale… doch man hätte ihn nur dabei hören müssen.
»Und was meinen Sie, fragte man ihn, wird wohl am 15. April geschehen?
– Was? Nun jedenfalls wird Meister Tornbrock Schlag zwölf Uhr das Testament eröffnen…
– Und Sie zweifeln nicht daran, daß die »Sechs« zu alleinigen Erben des Verstorbenen eingesetzt werden?
– Gewiß nicht!… Warum, ich bitte Sie, sollte uns William I. Hypperbone zur Begleitung seines Leichenzugs bestimmt haben, wenn er uns nicht sein Vermögen zukommen lassen wollte?
– Ja… wer weiß?…
– Das fehlte blos noch, uns ohne Schadloshaltung so arg belästigt zu haben!… Bedenken Sie nur… ein Weg von elf Stunden!
– Ist aber nicht zu vermuthen, daß das Testament mehr oder weniger sonderbare Bestimmungen enthalten werde?
– Das ist wohl möglich, und wenn man sich das Original von Mann vorstellt, ist ja etwas derartiges zu erwarten. Nun wohl, ist, was er verlangt, überhaupt möglich, so wird es erfüllt werden, ist es unmöglich, so… nun, das weiß ich nicht. Jedenfalls, liebe Freunde, dürfen Sie auf Harris T. Kymbale zählen… er wird vor nichts zurückschrecken!«
Nein, schon um der Ehre des Journalismus willen würde er nicht zurückweichen, darauf konnten sich alle verlassen, die ihn kannten und auch alle, die ihn nicht kannten, wenn es unter der Bevölkerung Chicagos solche Leute gab. Welche Bedingungen der Verstorbene auch gestellt haben mochte, der erste Stadtberichterstatter der »Tribune« nahm sie im voraus an und wollte sie erfüllen. Handelte es sich um eine Reise nach dem Monde, so würde er eben abreisen, und wenn ihm nicht aus Mangel an Luft der Athem ausging, würde er unterwegs auch nicht verweilen.
Welch ein Unterschied zwischen diesem entschlossenen Amerikaner und seinem Miterben für ein Sechstel, jenem Hermann Titbury, der in dem Handelsviertel wohnte, das von Norden nach Süden von der langgestreckten Robey Street durchschnitten wird.
Als die Vertreter der »Staatszeitung« an die Hausthür der Nr. 77 geklopft hatten, gelang es ihnen nicht einmal, über die Schwelle zu kommen.
»Herr Hermann Titbury, riefen sie durch die ganz wenig geöffnete Thür, ist er vielleicht zu Hause?
– Ja, antwortete eine Art Riesin, deren schlecht geordnetes Haar und nachlässige Kleidung sie als weiblichen Drachen erscheinen ließ.
– Könnten wir ihn sprechen?
– Das will ich Ihnen sagen, wenn ich Frau Titbury darum gefragt habe.«
Es gab hier nämlich eine Frau Titbury im Alter von fünfzig Jahren, die zwei Jahre älter als ihr Gatte war. Die Antwort aber, die diese Matrone sandte und die eine Dienerin getreulich übermittelte, lautete:
»Herr Titbury kann Sie nicht empfangen, er wundert sich, daß sich überhaupt jemand erlaubt, ihn zu stören!«
Und hier handelte es sich doch nur darum, Zutritt in sein Bureau, nicht in sein Speisezimmer zu erhalten, ihn um einige Auskunft über seine Person zu ersuchen, nicht aber, an seiner Tafel Platz zu nehmen…