Menschliche?… Ist das richtig?… Nein, thierische, denn aus der ganzen riesigen Erscheinung sprach etwas Thierisches. Seine Organe fungierten wie eine Maschine die man in Gang gesetzt hatte – eine Maschine, deren Mechaniker John Milner war. Berühmt in Nord-und in Südamerika, kümmerte er sich doch kaum um seine Berühmtheit. Essen, trinken, boxen, schlafen, darum drehte sich, ohne jede geistige Thätigkeit, sein ganzes Dasein. Begriff er wohl, was der Zufall für ihn gethan hatte, als er ihn der Gruppe der »Sechs« angliederte? Wußte er, zu welchem Zwecke er gestern unter dem Zujauchzen der Volksmenge mit dröhnend schwerem Schritte neben dem Leichenwagen her getrottet war?… Vielleicht ein wenig; sein Traineur wußte es dafür aber um so besser, und würde auch später wissen, alles zum eignen Vortheil mit auszunutzen, was jener diesem Glücksfall etwa verdankte.
Es folgt hieraus, daß es John Milner war, der die Fragen der Reporter bezüglich Tom Crabbe’s beantwortete. Er gab diesen Aufschluß über alle Einzelheiten, die für die Leser der »Freien Presse« von Interesse sein konnten: über das Gewicht des Mannes – fünfhundertdreiunddreißig (amerikanische) Pfund vor dem Essen und fünfhundertvierzig nachher – über seinen Taillenumfang von genau sechs Fuß zehn Zoll, über seine Körperkraft, die am Dynamometer gemessen fünfundsiebzig Meterkilogramm, das heißt eine Pferdekraft, erreichte, über die Kraft, mit der er die Kiefer zusammenpressen konnte, gleich zweihundertvierunddreißig Pfund, über sein Alter: dreißig Jahre sechs Monate und siebzehn Tage, über seine Eltern, den Vater, der Packer oder Schlächter im Hause Armour, und über die Mutter, die öffentliche Ringkämpferin im Cirkus von Swansea gewesen war. Was brauchte es mehr, um einen Artikel von hundert Zeilen über Tom Crabbe zu schreiben?
»Er spricht ja kaum ein Wort, bemerkte einer der Journalisten.
– Ja, so wenig wie möglich, antwortete John Milner. Wozu sollte es auch dienen, sich die Zunge abzunutzen?
Lissy wollte von einem Interview einmal nichts wissen.(S. 59.)
– Vielleicht… denkt er auch nicht viel mehr?…
– Was könnte ihm das Denken nützen?…
– Freilich… freilich… wohl nichts, Herr Milner.
– Tom Crabbe ist weiter nichts als eine Faust, setzte der Traineur hinzu, eine geschlossene Faust und gleich bereit zum Angriff wie zur Abwehr!«
Die Reporter der »Freien Presse« zogen sich hierauf zurück.
»Das reine Thier!… meinte der eine, als sie auf der Straße waren.
– Und was für ein Thier!« antwortete der zweite.
Natürlich meinten sie damit John Milner nicht.
Begiebt man sich nach dem Nordwesten der Stadt, so kommt man nach Ueberschreitung des Boulevard Humboldt in deren siebenundzwanzigstes Quartier. Hier ist der Verkehr weniger lebhaft, die Bevölkerung weniger geschäftig. Wer dahin kommt, könnte sich in die Provinz versetzt glauben, obgleich es in den Vereinigten Staaten eine solche im landesüblichen Sinne gar nicht giebt. Jenseits der Wabansia Avenue trifft man auf den unteren Theil der Sheridan Street. Geht man hier bis zur Nr. 19, so sieht man sich vor einem einfachen, siebzehnstöckigen und von vielen Miethsparteien bewohnten Hause. In dessen neuntem Stockwerke hatte Lissy Wag eine kleine Wohnung von zwei Zimmern, nach der sie erst heimkehrte, wenn sie als Untercassierin im Modemagazin von Marshall Field ihr Tagewerk vollendet hatte.
Lissy Wag stammte aus einer achtbaren, doch wenig bemittelten Familie, von der sie allein noch übrig war. Gut erzogen und wohl unterrichtet, wie die meisten jungen Amerikanerinnen, hatte sie sich nach traurigen Schicksalsschlägen, nach dem vorzeitigen Ableben ihres Vaters und ihrer Mutter, die Mittel zu ihrer Existenz müssen durch Arbeit zu gewinnen suchen. Ihr Vater war durch eine unglückliche See-Versicherungsangelegenheit um seine ganze Habe gekommen, und eine im Interesse der Tochter durchgeführte Liquidation hatte dieser auch nichts übrig gelassen.
Begabt mit entschlossenem Charakter, sicherem Urtheil, klarer Intelligenz und ruhiger Selbstbeherrschung, hatte Lissy Wag moralische Kraft genug, den Muth nicht zu verlieren. Dank der Fürsprache einiger Freunde ihrer Familie, war sie dem Inhaber der Firma Marshall Field empfohlen worden und nahm bei diesem seit fünfzehn Monaten eine recht angenehme Stellung ein.
Es war ein sehr hübsches junges Mädchen von einundzwanzig Jahren und von Mittelgröße, mit blondem Haar, tiefblauen Augen und hübscher, von Gesundheit zeugender Hautfarbe. Dabei hatte sie einen eleganten Gang und etwas ernste Gesichtszüge, nur zuweilen belebt von sanftem Lächeln, das dann zwei Reihen schöner Zähne zwischen den Lippen aufleuchten ließ. Immer liebenswürdig, gefällig, zuvorkommend und wohlwollend, hatte sie unter ihren Bekannten nur Freunde.
Von einfachem Geschmack, sehr bescheiden, ohne Ehrgeiz und ohne sich je Träumereien hinzugeben, zu denen sich viele ja so leicht verirren, wurde Lissy Wag sicherlich am allerwenigsten von den »Sechs« erregt, als sie erfuhr, daß der Zufall sie rief, an dem Leichenbegängnisse theilzunehmen. Anfänglich wollte sie es ablehnen, eine solche Art öffentlichen Auftretens widerstrebte ihr. Ihren Namen und ihre Person der öffentlichen Neugierde preisgegeben zu sehen, das erfüllte sie mit tiefem Widerwillen. Sie mußte ihren, doch gewiß ganz ehrenhaften Gefühlen Gewalt anthun, und nur mit schwerem Herzen und düsterer Stirn nahm sie ihren Platz neben dem Wagen ein.
Wir müssen hier hervorheben, daß eine ihrer vertrautesten Freundinnen alles aufgeboten hatte, den Widerstand des jungen Mädchens zu besiegen. Das war die lebhafte, heitere, lachlustige, zweiundzwanzigjährige Jovita Foley, die, wie sie recht gut wußte, weder schön noch häßlich war, durch ihre geistvollen, wenn auch etwas spottlustigen und seinen Gesichtszüge und ihre liebenswürdige Natur aber überall den besten Eindruck machte und die mit Lissy Wag in engster Freundschaft verbunden war.
Die beiden jungen Mädchen wohnten auch beisammen, und nachdem sie im Geschäft von Marshall Field, wo Jovita Foley erste Verkäuferin war, den Tag verbracht hatten, gingen sie miteinander heim. Nur selten sah man die eine ohne die andere.
Wenn Lissy Wag unter diesen Umständen dem eifrigen Zureden ihrer Freundin nachgab, so stimmte sie doch nicht zu, die Berichterstatter des »Chicago Herald« zu empfangen, die sich noch am Abend in Nr. 19 der Sheridan Street einfanden.
Vergebens redete ihr Jovita Foley zu, nicht so zugeknöpft zu sein – sie wollte von einem Interview einmal nichts wissen. Nach den Reportern kämen dann die Photographen, um ihr indiscretes Objectiv auf sie zu richten… nach den Photographen noch Neugierige aller Art… Nein, es sei besser, die Wohnung gegen alle unwillkommenen Besucher verschlossen zu halten. Was Jovita Foley auch einwenden mochte – jedenfalls war das das Klügste, und dem »Chicago Herald« entging die Gelegenheit, seinen Lesern mit einem sensationellen Artikel aufzuwarten.
»Nun, meinte Jovita Foley, als die Journalisten mit herabhängendem Ohr abgezogen waren, Deine Thür hast Du ja verschanzt, der öffentlichen Aufmerksamkeit wirst Du aber darum doch nicht entgehen. Ah, wenn ich es gewesen wäre!… Und das sage ich Dir im voraus, Lissy, ich werde Dich zu zwingen wissen, allen Bedingungen des Testaments nachzukommen. Bedenke doch, meine Beste… dieser Antheil an einem fast unerhörten Vermögen…
– O, an diese Erbschaft glaub’ ich blutwenig, liebe Jovita, erwiderte Lissy Wag, und wenn es sich dabei nur um den tollen Einfall eines überspannten Spaßvogels handelt, wird es mir keine großen Schmerzen machen.
– Daran erkenne ich meine Lissy, rief Jovita Foley, sie an sich heranziehend, keine Schmerzen, wo von einem solchen Vermögen die Rede ist…
– Sind wir beide denn nicht glücklich?…
– Zugegeben, doch wenn ich es gewesen wäre!… wiederholte das ehrgeizige junge Mädchen.