– Ferner hat, nahm Tornbrock wieder das Wort, William I. Hypperbone seinen Willen dahin kund gethan, daß die gesammte Bevölkerung Chicagos bei seiner Bestattung durch eine Abordnung von sechs Personen vertreten sei, die unter gewissen Bedingungen durch Auslosung erwählt worden sind. In Hinblick hierauf hatte er schon seit mehreren Monaten die Namen seiner Chicagoer Mitbürger beiderlei Geschlechts – aller, die zwischen zwanzig und sechzig Jahre zählten – in einer Urne gesammelt. Gestern – seine genauen Vorschriften verpflichteten mich dazu – hab’ ich diese Auslosung im Beisein des Bürgermeisters und einiger Rathsherren vorgenommen. Den sechs ersten Personen, deren Namen gezogen worden waren, hab’ ich mittelst eingeschriebenen Briefes Mittheilung von den Bestimmungen des Entseelten zugehen lassen und sie eingeladen, beim Leichenzuge mit an der Spitze zu gehen, habe sie auch dringend ersucht, sich der Pflicht, dem Verstorbenen die letzten Ehren zu erweisen, nicht zu entziehen…
– Sie werden sich wohl hüten, auszubleiben, rief Thomas R. Carlisle, denn aller Vermuthung nach dürften sie von dem Testator sehr reichlich bedacht sein, wenn er sie nicht gar als alleinige Erben eingesetzt hat.
– Das wäre ja möglich, meinte Tornbrock, erstaunen würde ich darüber wenigstens nicht.
– Und welchen Bedingungen müssen die durch das Los bestimmten Personen entsprechen? erkundigte sich Georges B. Higginbotham.
– Nur einer einzigen, erklärte der Notar, sie müssen in Chicago geboren und hier wohnhaft sein.
– Wie… keiner andern?
– Keiner!
– Gut, das ist abgemacht, sagte Thomas R. Carlisle; doch wann werden Sie, Herr Tornbrock, das eigentliche Testament eröffnen?
– Vierzehn Tage nach dem Begräbniß.
– Erst in vierzehn Tagen?…
– Erst dann… wie es eine hier folgende Anmerkung vorschreibt… also am fünfzehnten April.
– Und warum diese Verzögerung?
– Weil mein Client, ehe er seinen letzten Willen öffentlich bekannt werden ließe, wünschte, die zweifellose Gewißheit erlangt zu sehen, daß er unwiderruflich aus dieser Welt geschieden sei.
– Ein praktischer Mann, unser Freund Hypperbone! meinte Georges B. Higginbotham.
– Man könnte es unter so ernsten Umständen gar nicht noch mehr sein, setzte Thomas R. Carlisle hinzu, und wenn man sich nicht gerade verbrennen ließe…
– Da liefe man, beeilte sich der Notar einzuwenden, auch noch Gefahr, lebendig verbrannt zu werden…
– Gewiß, stimmte der Clubvorsitzende ihm zu, doch wenn das einmal geschehen ist, weiß einer wenigstens, daß er sicherlich todt ist!«
Von einer Einäscherung der Leiche William I. Hypperbone’s war indeß keine Rede – diese lag schlecht und recht in einem Prunksarge unter dem Behange des Wagens.
Selbstverständlich hatte sich die Nachricht von dem Heimgange William I. Hypperbone’s in der Stadt schnell verbreitet und eine wahrhaft wunderbare Wirkung hervorgebracht.
Von der ersten Stunde an wußte man darüber folgendes:
Am Nachmittage des 30. März hatte das ehrenwerthe Mitglied des Excentric Club mit zwei seiner Collegen vor der Tafel des edlen Gänsespiels gesessen. Eben hatte er den ersten Wurf gethan und dabei neun (6+3) erzielt – ein sehr glücklicher Anfang, der ihn gleich nach dem sechsundfünfzigsten Felde brachte.
Da steigt ihm das Blut zu Gesicht, seine Glieder strecken sich aus. Er will sich erheben, taumelt bei dem Versuche, streckt die Hände vor und wäre unfehlbar auf dem Parquet zusammengebrochen, wenn John T. Dickinson und Harry B. Andrews ihn nicht in den Armen aufgefangen und auf ein Sopha niedergelegt hätten.
Jetzt galt es, schleunigst einen Arzt herbeizuschaffen. Es kamen ihrer gleich zwei. Ihre Aussage ging dahin, daß William I. Hypperbone einer Gehirncongestion erlegen, daß es mit ihm vorbei sei, und, das weiß der Himmel, der Doctor H. Burnham aus der Cleveland Avenue und der Doctor S. Buchanan aus der Franklin Street verstanden sich auf Todesfälle.
Eine Stunde später war der Verblichene schon nach dem Wohnzimmer in seinem großen Hause geschafft und der sofort benachrichtigte Notar Tornbrock, ohne einen Augenblick zu verlieren, dahin geeilt.
Die erste Sorge des Notars bestand darin, den Umschlag zu erbrechen, der bezüglich der Bestattung die Anordnungen des Entschlafenen enthielt. Durch diese wurde er beauftragt, ohne Zögern die sechs Personen auslosen zu lassen, die sich dem Gefolge beim Begräbniß anschließen sollten und deren Namen mit mehreren hunderttausend andern in einer großen, in der Mitte der Hausflur stehenden Urne enthalten waren.
Als diese wunderliche Vorschrift bekannt wurde, überfiel den Notar Tornbrock, wie man sich leicht denken kann, eine ganze Wolke von Journalisten, die Berichterstatter der »Chicago Tribune«, des »Chicago Inter-Ocean« und des »Chicago Evening Journal« (das sind lauter republikanische, also conservative Blätter), ebenso wie die des »Chicago Globe«, »Chicago Herald«, der »Chicago Times«, »Chicago Mail« und »Chicago Evening Post« (lauter demokratische, also liberale Blätter), ihnen schlossen sich aber auch die der »Chicago Daily News«, des »Daily News Record«, der »Freien Presse« und der »Staatszeitung« (politisch unabhängige Blätter) an. Das vornehme Haus in der La Salle Street wurde den ganzen halben Tag gar nicht leer. Die Ausstöberer von Neuigkeiten, die Lieferanten für die Rubrik »Verschiedenes« und die Redacteure für Aufsehen erregende Stadtchronik strömten aber nicht etwa hierher, um einer vor dem anderen Einzelheiten über den Tod William I. Hypperbone’s einzuheimsen, über die Ursachen, die bei dem berühmten Würfelfall von 6+3 ihn so unerwartet hinweggerafft hatten… nein, alle waren auf die sechs Namen, die aus der Urne hervorgehen sollten, gespannt.
Von der Menge arg bedrängt, wußte sich Meister Tornbrock als hervorragend praktischer Mann – was übrigens seine allermeisten Landsleute in hohem Grade sind – aus der Verlegenheit zu helfen. Er erklärte, die Namen zur Versteigerung bringen zu wollen, sie nur dem Journale zu liefern, das den höchsten Preis dafür zahlen würde, unter dem Vorbehalt, daß die erreichte Summe zwischen zweien der einundzwanzig Krankenhäuser der Stadt vertheilt würde.
Den Sieg über ihre Mitbewerber trug die »Tribune« davon – mit zehntausend Dollars, ja, bis so weit trieb sie in hartem Kampfe mit dem »Chicago Inter-Ocean« den Preis hinaus.
An diesem Tage rieben sie sich schmunzelnd die Hände, die Verwalter der Charitable Eye and Ear Infirmary, 237, W. Adams Street, und die des Chicago Hospital for Women and Children, W. Adams Street, Corner Paulina!
Welcher Erfolg aber am nächsten Tage auch für das einflußreiche Blatt, und welch hübsche Einnahme erzielte es aus einer besonderen zweiten Ausgabe von zwei Millionen fünfmalhunderttausend Exemplaren! Hunderttausendweise mußten diese nach den damals bestehenden einundfünfzig Staaten der Union versendet werden.
»Die Namen, riefen seine Austräger, die Namen jener sechs Glücklichen von uns, die die Verlosung aus der Einwohnerschaft Chicagos bestimmt hatte!«
Es waren die sechs »Chanoards« (Glückskinder), wie man sie unter Entlehnung dieses Ausdruckes aus dem Wörterbuche nannte, das die französische Akademie unlängst mit diesem neuen Worte bereichert hatte – oder auch abgekürzt die »Sechs« zu nennen beliebte.
Solche Lärm machende Wagnisse lagen übrigens in der Gepflogenheit der »Tribune«; doch was könnte sich auch das wohlunterrichtete Blatt aus der Dearborn und Madison Street nicht leisten, das mit dem Budget von einer Million Dollars rechnet und für dessen, mit tausend Dollars aufgelegte Actien heute fünfundzwanzigtausend bezahlt werden?
Abgesehen von der regelrechten Nummer des 1. April veröffentlichte die »Tribune« die sechs Namen auch mittelst besonderer Liste, die ihre Vertreter bis in die entferntesten Ortschaften der Republik der Vereinigten Staaten massenhaft verbreiteten.
Wir geben hier in der durch das Los bestimmten Reihenfolge diese Namen wieder, die lange Monate hindurch wegen ganz außergewöhnlicher Umstände, welche auch der findigste europäische Romandichter nicht hätte ersinnen können, in der halben Welt widerhallen sollten: