Jetzt waren sie so gut wie erwachsen, und ein anderer Mann zog sie auf.
Er wandte sich ostwärts und ließ sich mit dem Verkehr treiben.
Während Nate ziellos durch Montana fuhr und an Rachel dachte, reichte Hark Gettys einen Antrag auf Abweisung ihrer Stellungnahme zur Testamentsanfechtung ein. Seine Gründe waren klar und unabweisbar, und er untermauerte seinen Antrag mit einem zwanzigseitigen Schriftsatz, an dem er einen ganzen Monat gefeilt hatte. Man schrieb den 7. März. Nahezu drei Monate nach Troy Phelans Tod, nicht ganz zwei Monate, nachdem Nate O'Riley hinzugezogen worden war, fast drei Wochen nach Beginn des Vorverfahrens und vier Monate vor der Verhandlung war das Gericht immer noch nicht für Rachel Lane zuständig. Außer den auf nichts Greifbares gestützten Behauptungen ihres Anwalts gab es kein Eebenszeichen von ihr. Keines der dem Gericht vorliegenden Dokumente trug ihre Unterschrift.
Hark bezeichnete sie in seinem Antrag als »Phantom« und erklärte, er und die Antragsteller kämpften gegen einen Schatten. Die Frau solle schließlich elf Milliarden Dollar erben. Sie könne zumindest die erforderliche Gerichtsstandvereinbarung unterschreiben. Wenn sie sich die Mühe gemacht habe, einen Anwalt zu beauftragen, könne sie sich gewiss auch der Zuständigkeit des Gerichts unterwerfen.
Je mehr Zeit verstrich, desto günstiger schien es um die Sache der Phelan-Kinder zu stehen. Trotzdem fiel es ihnen schwer, Geduld zu bewahren, während sie von ihrem unermesslichen Reichtum träumten. Sie durften jede Woche, die ohne Lebenszeichen von Rachel verging, als weiteren Beweis dafür verbuchen, dass sie kein Interesse an dem Verfahren hatte. Bei ihren Freitagvormittag-Sitzungen gingen die Phelan-Anwälte noch einmal die Zeugenbefragung durch, sprachen über ihre Mandanten und brachten letzte Korrekturen an ihrer Prozessstrategie an. Die meiste Zeit aber spekulierten sie über die Gründe, die Rachel haben mochte, sich dem Gericht gegenüber nicht auszuweisen. Die lachhafte Vorstellung, dass sie das Geld möglicherweise nicht wollte, ließ ihnen keine Ruhe. Der bloße Gedanke war widersinnig, tauchte aber trotzdem jeden Freitagmorgen erneut auf.
Aus den Wochen wurden Monate. Die Lottokönigin erschien nicht, um ihren Gewinn abzuholen.
Es gab einen weiteren wichtigen Grund, Druck auf die Verwalter von Troys Vermögen auszuüben, und der hieß Snead. Hark, Yancy, Bright und Langhorne hatten die Aufzeichnung der Befragung ihres Hauptzeugen so oft angesehen, bis sie sie auswendig konnten. Sie waren unsicher, ob er imstande sein würde, Geschworene auf seine Seite zu ziehen. Nate O'Riley hatte ihn zum Narren gemacht, und dabei hatte es sich lediglich um eine Befragung gehandelt. Man konnte sich vorstellen, welche Waffen er bei einem Prozess aufbieten würde, über dessen Ausgang Geschworene zu entscheiden hatten, vorwiegend Menschen aus der Mittelschicht, denen es schwerfiel, Monat für Monat ihre Rechnungen zu bezahlen. Dass Snead eine halbe Million eingesteckt hatte, um seine Geschichte zu erzählen, würde bei ihnen nicht gut ankommen.
Die Schwierigkeit mit Snead lag auf der Hand. Er log, und Lügen haben vor Gericht meist kurze Beine. Nachdem er bei der Befragung so versagt hatte, waren den Anwälten die größten Bedenken gekommen, ihn vor den Geschworenen auftreten zu lassen. Sofern auch nur eine oder zwei weitere Lügen aufgedeckt wurden, konnten sie alle Hoffnungen begraben.
Durch die Sache mit dem Muttermal war Nicolette als Zeugin völlig nutzlos geworden.
Ihre eigenen Mandanten waren auch nicht besonders sympathisch. Mit Ausnahme Rambles, der den unangenehmsten Eindruck machte, war jeder von ihnen von seinem Vater mit einem Startkapital von fünf Millionen Dollar ins Leben geschickt worden - so viel würde keiner der Geschworenen in seinem ganzen Leben verdienen. Troys Kinder konnten darauf hinweisen, dass ihr Vater sich an ihrer Erziehung nicht beteiligt hatte, doch kam vermutlich die Hälfte der Geschworenen aus zerrütteten Familien.
Am meisten Sorgen aber machten ihnen die Psychiater. Sie wären nie und nimmer imstande, Nate O'Rileys erbarmungslosem Kreuzverhör standzuhalten, eines Mannes, der über zwanzig Jahre lang Ärzten nach allen Regeln der Kunst im Gerichtssaal die Hölle heiß gemacht hatte.
Um einen Prozess zu vermeiden, mussten sie unbedingt einen außergerichtlichen Vergleich anstreben. Dazu aber war es unerlässlich, auf der Gegenseite einen Schwachpunkt zu entdecken. Rachel Lanes offenkundiger Mangel an Interesse war mehr als hinreichend und mit Sicherheit ihre beste Chance.
Josh war voll Bewunderung für Harks Abweisungsantrag. Er begeisterte sich für juristische Taktik und Winkelzüge, und wenn jemandem ein solches Manöver fehlerfrei gelang, applaudierte er im stillen, selbst wenn es sich um einen Gegner handelte. Alles an Harks Vorgehen war perfekt - der Zeitpunkt, die Begründung, der brillant aufgebaute Schriftsatz.
Zwar stand die Sache der von Troy Phelan getäuschten Erben auf schwachen Füssen, doch waren ihre Schwierigkeiten nichts im Vergleich mit denen Nates, der keine Mandantin hatte. Wohl war es ihm im Verein mit Josh gelungen, das zwei Monate lang zu vertuschen, doch inzwischen ließ sich niemand mehr von dieser List täuschen.
ACHTUNDVIERZIG
Daniel, sein Ältester, wollte sich unbedingt in einer Kneipe mit ihm treffen. Nate fand sie nach Einbruch der Dunkelheit, zwei Nebenstraßen vom Universitätsgelände entfernt, in einer Straße voller Bars und Klubs. Die Atmosphäre dort war ihm nur allzu vertraut: Musik, die grelle Bierreklame, die Studentinnen, die über die Straße riefen. Genauso war es noch vor wenigen Monaten in Georgetown gewesen, und an nichts davon konnte er Geschmack finden. Vor einem Jahr hätte er zurückgerufen, die jungen Frauen von einem Lokal ins nächste verfolgt, sich vorgemacht, selbst zwanzig Jahre alt zu sein und die ganze Nacht durchmachen zu können.
Daniel wartete in einer engen Sitznische mit einer Freundin. Auf dem Tisch standen zwei Flaschen Bier. Beide rauchten. Vater und Sohn schüttelten sich die Hand. Augenscheinlich wäre Daniel jede liebevollere Geste Nates peinlich gewesen.
»Das ist Stef«, sagte Daniel und wies auf seine Begleiterin. »Sie ist Mannequin«, fügte er rasch hinzu, wohl um dem Vater zu beweisen, dass er mit Klassefrauen Umgang hatte.
Aus irgendeinem Grund hatte Nate gehofft, einige Stunden allein mit seinem Sohn verbringen zu können. Das sollte offenbar nicht sein.
An Stef fiel ihm als erstes der Schmollmund und der dick aufgetragene graue Lippenstift auf. Zur Begrüßung gönnte sie ihm kaum die Andeutung eines Lächelns. Auf jeden Fall war sie hübsch und dürr genug, um tatsächlich Mannequin zu sein. Ihre Arme sahen aus wie Besenstiele. Zwar konnte Nate ihre Beine nicht sehen, doch vermutete er, dass sie dünn waren und ihr bis zu den Achselhöhlen reichten. Zweifellos hatte sie um die Fußknöchel herum mindestens zwei Tätowierungen.
Nate konnte sie vom ersten Augenblick an nicht leiden, und es kam ihm ganz so vor, als beruhe das auf Gegenseitigkeit. Und wer weiß, was Daniel ihr über seinen Vater berichtet hatte.
Daniel hatte vor einem Jahr das College in Grinnell beendet und den darauffolgenden Sommer in Indien verbracht. Nate hatte ihn seit dreizehn Monaten nicht gesehen. Weder war er zu seiner Abschlussfeier gegangen, noch hatte er ein Geschenk oder auch nur eine Glückwunschkarte geschickt. Nicht einmal angerufen hatte er. Daher herrschte am Tisch genug Spannung, ohne dass das Mannequin Rauchringe blies und Nate ausdruckslos anstarrte.
»Möchtest du ein Bier?« fragte Daniel seinen Vater, als ein Kellner in der Nähe auftauchte. Es war eine grausame Frage, ein kleiner Pfeil, der abgefeuert wurde, um ihn zu quälen.
»Nein, einfach Wasser«, sagte Nate. Daniel rief dem Kellner die Bestellung zu und fragte dann: »Immer noch abstinent, was?«
»Na klar«, sagte Nate lächelnd.