»Und seit dem vorigen Sommer kein Rückfall?«
»Nein. Lass uns von was anderem reden.«
»Dan hat mir gesagt, dass Sie im Entzug waren«, sagte Stef und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus. Es überraschte Nate, dass sie einen vollständigen Satz herausbrachte. Sie sprach langsam, und ihre Stimme klang so hohl, wie ihre Augenhöhlen aussahen.
»Ja, mehrfach. Was hat er Ihnen noch erzählt?«
»Da war ich auch schon«, sagte sie, »aber erst einmal.« Sie schien stolz auf ihre Leistung zu sein und zugleich ihren Mangel an Erfahrung zu bedauern. Die beiden Bierflaschen auf dem Tisch waren inzwischen leer.
»Wie schön«, sagte Nate kühl. Er brachte es nicht fertig, so zu tun, als wäre sie ihm sympathisch. In ein oder zwei Monaten wäre sie ohnehin mit einem anderen Mann zusammen.
»Was macht das Studium?« fragte er Daniel.
»Das habe ich an den Nagel gehängt.« Es klang gezwungen und ärgerlich. Daniel stand erkennbar unter Druck. Bestimmt trug Nate eine Mitschuld daran, dass sein Sohn das Studium aufgegeben hatte, nur war ihm nicht recht klar, inwiefern und warum. Sein Wasser kam. »Habt ihr beiden schon gegessen?« fragte er.
Stef vermied jegliche Nahrungsaufnahme, und Daniel hatte keinen Appetit. Nate hatte zwar schrecklichen Hunger, wollte aber nicht allein essen. Er sah sich im Lokal um. Irgendwo in einer Ecke wurde Haschisch geraucht.
Die Geräuschkulisse war laut. Es war noch nicht lange her, dass er sich in solchen Lokalen wohl gefühlt hatte. Daniel steckte sich die nächste Zigarette an, eine filterlose Camel, der schlimmste Sargnagel auf dem Markt, und blies eine dicke Rauchwolke gegen den billigen Kneipenleuchter, der von der Decke hing. Er war schlecht gelaunt und gereizt.
Bestimmt hatte er die junge Frau mitgebracht, damit es keinen Streit oder gar eine Prügelei gab. Nate vermutete, dass Daniel pleite war und seinem Vater einmal ordentlich die Meinung sagen wollte, weil er ihn nicht genug unterstützt hatte. Auf der anderen Seite aber fürchtete er wohl, dass sich Nate, den er als nicht besonders belastbar kannte, darüber gleich wieder aufregte. Stefs Anwesenheit sollte dafür sorgen, dass er sich zusammennahm. Außerdem wollte er vermutlich das Zusammentreffen so kurz wie möglich halten. Es dauerte etwa eine Viertelstunde, bis Nate das durchschaut hatte.
»Wie geht es deiner Mutter?« fragte er.
Daniel bemühte sich zu lächeln. »Gut. Ich war Weihnachten bei ihr. Du warst verschwunden.«
»Ich war in Brasilien.«
Eine Studentin in enganliegenden Jeans ging vorüber. Stef musterte sie von Kopf bis Fuß, wobei endlich Anzeichen von Leben in ihre Augen traten. Die junge Frau war noch dürrer als sie selbst. Wieso galt es eigentlich auf einmal als cool, wie ein Gerippe herumzulaufen?
»Was gibt es denn in Brasilien?« fragte Daniel.
»Eine Mandantin.« Nate war es leid, immer wieder von seinem Abenteuer zu erzählen.
»Mama hat gesagt, dass du Ärger mit dem IRS hast.«
»Darüber freut sie sich bestimmt.«
»Möglich. Besondere Sorgen schien es ihr jedenfalls nicht zu machen. Musst du dafür ins Gefängnis?«
»Nein. Könnten wir über etwas anderes reden?«
»Genau das ist der Haken, Papa. Es gibt nichts anderes, nur die Vergangenheit, und da können wir nicht hin.«
Die Schiedsrichterin Stef rollte mit den Augen, als wolle sie sagen: »Das reicht.«
»Warum hast du das Studium geschmissen?« fragte Nate, um die Frage hinter sich zu bringen.
»Aus verschiedenen Gründen. Es wurde langweilig.«
»Er hatte kein Geld mehr«, sagte Stef hilfreich. Sie sah Nate so ausdruckslos an, wie ihr das nur möglich war. »Stimmt das?« fragte Nate.
»Das ist ein Grund.«
Nate spürte den Impuls, das Scheckbuch zu zücken, um dem Jungen aus der Patsche zu helfen. So hatte er es immer gehalten. Elternschaft war für ihn nichts anderes gewesen als eine unaufhörliche Kette von Zahlungen. Wenn du schon nicht selbst da sein kannst, schick wenigstens Geld. Aber inzwischen war Daniel dreiundzwanzig, hatte das College abgeschlossen und zog mit Gestalten wie Fräulein Bulimie herum. Es war höchste Zeit, dass er lernte, auf eigenen Füssen zu stehen, sonst würde er umfallen.
Außerdem war Nates Scheckbuch nicht mehr das, was es einmal war.
»Das ist gar nicht so schlecht«, sagte er daher. »Arbeite eine Weile, dann lernst du vermutlich die Uni schätzen.« Stef widersprach. Sie hatte zwei Freundinnen, die das Studium abgebrochen hatten und damit in ein tiefes Loch gefallen waren. Während sie weiterplapperte, zog sich Daniel in seine Ecke der Nische zurück und leerte seine dritte Flasche Bier. Nate kannte jeden denkbaren Vortrag zum Thema Alkohol, wusste aber auch, wie scheinheilig es klingen würde, wenn ausgerechnet er solche Töne anschlüge.
Nach vier Bier war Stef nicht mehr ansprechbar, und Nate hatte nichts mehr zu sagen. Et kritzelte seine Telefonnummer in St. Michaels auf eine Papierserviette und gab sie Daniel. »Hier bin ich in den nächsten Monaten zu erreichen. Ruf an, wenn du mich brauchst.«
»Bis dann, Pa«, sagte Daniel.
»Gib auf dich acht.«
Nate trat in die kalte Nacht hinaus und ging zum Lake Michigan hinüber.
Zwei Tage später traf er in Pittsburgh ein, doch zur vorgesehenen dritten und letzten Wiederbegegnung kam es nicht. Zweimal hatte er Kaitlin, seine Tochter aus erster Ehe, angerufen, und sie hatten sich auf halb acht zum Abendessen in der Halle seines Hotels in der Stadtmitte verabredet. Ihre Wohnung lag zwanzig Minuten entfernt. Um halb neun rief sie an und teilte ihm mit, sie sei im Krankenhaus bei einer Freundin, die bei einem Autounfall eine schwere Kopfverletzung erlitten habe.
Nate schlug vor, am nächsten Tag miteinander zu Mittag zu essen, doch Kaitlin erklärte, das sei nicht möglich, weil die Freundin auf der Intensivstation liege und sie in ihrer Nähe bleiben wolle, bis sich ihr Zustand stabilisiert habe. Als Nate merkte, dass seine Tochter auf Abstand zu ihm ging, erkundigte er sich nach der Adresse des Krankenhauses. Zuerst wusste sie sie nicht, dann war sie nicht recht sicher, bis sie schließlich nach weiterem Nachdenken erklärte, ein Besuch dort sei keine gute Idee, denn sie könne ihre Freundin nicht allein lassen.
Er aß in seinem Zimmer an einem Tischchen neben dem Fenster, von wo sein Blick auf die Straße fiel. Lustlos stocherte er auf dem Teller herum und überlegte, warum seine Tochter ihn nicht sehen wollte. Trug sie einen Ring durch die Nase? Eine Tätowierung auf der Stirn? War sie einer obskuren Religion beigetreten und hatte sich den Schädel kahl rasieren lassen? Hatte sie fünfzig Kilo zu- oder fünfundzwanzig abgenommen? War sie schwanger?
Er versuchte, ihr die Schuld zuzuschieben, damit er sich nicht dem stellen musste, was auf der Hand lag. War es möglich, dass sie ihn so sehr hasste?
In der Einsamkeit seines Hotelzimmers in einer Stadt, in der er niemanden kannte, war es leicht, sich selbst zu bemitleiden und sich erneut durch die Fehler der Vergangenheit runterziehen zu lassen.
Er griff zum Telefon und rief Phil an, um sich zu erkundigen, wie es in St. Michaels stehe. Phil hatte die Grippe, und da es im Keller der Kirche kühl war, ließ ihn seine Frau nicht dort arbeiten. Wunderbar, dachte Nate. Wie viele Ungewissheiten auch auf seinem Weg liegen mochten, die eine Konstante zumindest in der näheren Zukunft war die Aussicht darauf, dass ihm die Arbeit im Keller der Dreifaltigkeitskirche nicht ausgehen würde.
Dann erledigte er seinen allwöchentlichen Anruf bei Sergio und berichtete ihm, dass er die Dämonen unter Kontrolle habe und sich überraschend wohl fühle. Er habe nicht einmal einen Blick in die Minibar in seinem Hotelzimmer geworfen.
Er rief in Salem an und führte ein angenehmes Gespräch mit Angela und Austin. Wie sonderbar, dass die jüngeren Kinder bereit waren, mit ihm zu reden, die älteren aber nicht.
Schließlich rief er Josh an, der sich im Arbeitszimmer im Keller seines Hauses aufhielt und über das Chaos des