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Der Häuptling schwieg. »Er sagt, dass wir nicht lange bleiben können«, sagte Jevy.

»Warum nicht?« fragte Nate, ohne den Blick von ihrem Grab zu nehmen.

»Die Geister sagen, dass wir an der Malaria schuld sind. Die Krankheit ist gekommen, als wir zum ersten Mal hier waren. Die Indianer sind nicht glücklich, uns hier zu sehen.«

»Sagen Sie ihm, dass seine Geister ein Haufen Clowns sind.«

»Er möchte Ihnen etwas zeigen.«

Langsam erhob sich Nate und sah den Häuptling an. Sie traten durch die Tür in Rachels Hütte, wobei sie den Kopf einziehen mussten. Der Boden bestand aus gestampfter Erde. Im vorderen der zwei Räume standen unglaublich primitive Möbel, ein Stuhl aus Zuckerrohr und Ranken und ein Sofa, dessen Beine Holzklötze waren und dessen Sitzkissen Strohbündel. Der hintere Raum hatte als Schlafzimmer und Küche gedient. Wie die Indianer hatte sie in einer Hängematte geschlafen. Darunter stand auf einem Tischchen eine Kunststoffschachtel, die einst Medikamente enthalten hatte. Der Häuptling wies darauf und sagte etwas.

»Da ist was drin, das Sie sich ansehen sollen«, dolmetschte Jevy.

»Ich?«

»Ja. Sie hat gewusst, dass sie sterben würde, und den Häuptling gebeten, ihre Hütte zu bewachen. Wenn ein Amerikaner kommen würde, sollte er ihm die Schachtel zeigen.«

Nate hatte Angst, sie zu berühren. Der Häuptling nahm sie und gab sie ihm. Nate ging nach nebenan und setzte sich auf das Sofa. Der Häuptling und Jevy verließen die Hütte.

Seine Briefe hatten sie nie erreicht, jedenfalls lagen sie nicht in der Schachtel. Außer einer brasilianischen Kennmarke, wie sie jeder Bewohner des Landes besitzen muss, der kein Ureinwohner ist, enthielt sie drei Briefe von der Missionsgesellschaft. Nate las sie nicht, denn am Boden der Schachtel sah er Rachels Testament.

Es steckte in einem weißen Umschlag mit einem brasilianischen Absender. In ordentlichen Druckbuchstaben hatte sie darauf geschrieben: Letzter Wille Rachel Lane Porters.

Ungläubig sah Nate darauf. Mit zitternden Händen öffnete er behutsam den Umschlag. Er enthielt zwei gefaltete und durch eine Heftklammer verbundene Brief bögen. Auf dem ersten stand noch einmal in großen Druckbuchstaben Letzter Wille Rachel Lane Porters.

Nate las:

Ich, Rachel Lane Porter, Gottes Kind, Bewohnerin Seiner Welt, Bürgerin der Vereinigten Staaten und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, setze dies als meinen Letzten Willen fest.

1. Ich habe keine früheren Testamente abgefasst, die ich widerrufen müsste. Dies ist mein erstes und letztes. Jedes Wort habe ich von Hand geschrieben. Es soll ein eigenhändiges Testament sein.

2. In meinem Besitz habe ich eine Kopie des Testaments meines Vaters, Troy Phelan, vom 9. Dezember 1996, in dem er mich zur Universalerbin seines Vermögens einsetzt. Ich versuche, dies Testament nach dem Muster des seinigen abzufassen.

3. Weder schlage ich das auf mich entfallene Erbe aus, noch möchte ich es antreten, vielmehr ist mein Wunsch, dass mit dem Vermögen eine Stiftung gegründet wird.

4. Die Erträge der Stiftung sollen dazu dienen, nachstehende Ziele zu unterstützen: a) das Werk der Missionare von World Tribes Missions auf der ganzen Welt fortsetzen, b) die frohe Botschaft des Christentums verbreiten, c) die Rechte der Eingeborenenvölker Brasiliens und ganz Südamerikas schützen, d) die Hungrigen speisen, die Kranken heilen, den Obdachlosen eine Heimstatt verschaffen und die Kinder retten.

5. Zum Treuhänder der Stiftung berufe ich meinen guten Freund Nate O'Riley und gebe ihm die zu ihrer Verwaltung erforderlichen Vollmachten. Zugleich ernenne ich ihn zum Vollstrecker dieses Testaments.

Gezeichnet am sechsten Tag des Januar 1997 in Corumba, Brasilien.

RACHEL LANE PORTER

Er las ihr Testament immer wieder. Der Text auf dem zweiten Blatt war in Maschinenschrift auf portugiesisch abgefasst. Es würde eine Weile warten müssen.

Er betrachtete die gestampfte Erde zu seinen Füssen. Die Luft war stickig und stand vollkommen still. Die Welt schwieg, auch vom Dorf her war kein Laut zu hören. Die Ipicas hielten sich immer noch vor dem weißen Mann und seinen Krankheiten verborgen.

Fegt man einen Fußboden aus gestampfter Erde, damit es in der Hütte ordentlich und sauber außieht? Und stehen, wenn das Strohdach undicht ist, bei Regen Pfützen auf dem Boden und verwandeln ihn in Matsch? An der Wand ihm gegenüber sah er ein roh gezimmertes Regal mit Büchern - Bibeln, Anleitungen zum Lesen der Bibel, theologische Schriften. Es stand ein wenig schief und neigte sich einige Zentimeter nach rechts.

Elf Jahre lang war hier ihr Zuhause gewesen.

Er las das Testament erneut. Am sechsten Januar hatte er das Krankenhaus in Corumba verlassen. Sie war kein Traum gewesen. Sie hatte ihn berührt und ihm gesagt, dass er nicht sterben würde. Dann hatte sie ihr Testament geschrieben.

Das Stroh, auf dem er saß, raschelte, als er sich bewegte. Er war tief in Gedanken, als Jevy den Kopf zur Tür hereinsteckte und ihm mitteilte: »Der Häuptling möchte, dass wir gehen.«

»Lesen Sie das«, sagte Nate und gab ihm die beiden Blätter, das maschinenschriftliche obenauf. Jevy trat einen Schritt vor, um etwas sehen zu können. Er las langsam und sagte dann: »Es handelt sich um eine Erklärung von zwei Personen. Die eine ist ein Anwalt, der bestätigt, dass er gesehen hat, wie Rachel Lane Porter in seiner

Kanzlei in Corumba ihr Testament unterschrieben hat. Sie war bei klarem Verstand und wusste, was sie tat.

Seine Unterschrift ist amtlich beglaubigt, durch einen, wie sagen Sie noch -«

»Einen Notar.«

»Ja, einen Notar. Die zweite Person, hier unten, ist die Sekretärin des Anwalts. Sie sagt, wie es aussieht, dasselbe. Der Notar beglaubigt auch ihre Unterschrift. Was hat das zu bedeuten?«

»Ich erkläre es Ihnen später.«

Sie traten in den Sonnenschein hinaus. Der Häuptling hatte die Arme vor der Brust verschränkt, seine Geduld schien fast am Ende zu sein. Nate nahm die Kamera aus der Tasche und machte Aufnahmen von der Hütte und den Gräbern. Er ließ Jevy das Testament halten und hockte sich neben Rachels Grab. Dann hielt Nate es, während Jevy Aufnahmen machte. Der Häuptling war nicht bereit, sich mit Nate zusammen fotografieren zu lassen, und hielt sich so fern wie möglich. Er knurrte etwas, und Jevy fürchtete einen möglichen Zornesausbruch.

Sie fanden den Pfad und gingen durch den Wald, mieden auch auf dem Rückweg das Dorf. Als die Bäume dichter wurden, blieb Nate stehen und wandte sich zu einem letzten Blick auf Rachels Hütte um. Am liebsten hätte er sie mitgenommen, sie irgendwie in die Vereinigten Staaten transportiert, um sie dort als Denkmal zu bewahren, damit die Millionen Menschen, die Rachels Hand spüren würden, einen Ort hatten, den sie aufsuchen und wo sie Dank sagen konnten. Auch ihr Grab hätte er am liebsten mitgenommen. Sie verdiente einen Tempel.

Das aber wäre das letzte gewesen, was sie gewollt hätte. Jevy und der Häuptling waren nicht mehr zu sehen, und so eilte Nate weiter.

Sie erreichten den Fluss, ohne jemanden anzustecken. Der Häuptling knurrte Jevy etwas zu, als sie ins Boot stiegen. »Er sagt, wir sollen nicht wiederkommen«, sagte Jevy.

»Sagen Sie ihm, dass er sich darüber keine Sorgen zu machen braucht.«

Wortlos warf Jevy den Motor an, und das Boot entfernte sich rückwärts vom Ufer.

Der Häuptling hatte sich bereits wieder auf den Weg zum Dorf gemacht. Nate fragte sich, ob er Rachel vermis s-te. Elf Jahre hatte sie dort zugebracht. Sie schien beträchtlichen Einfluss auf ihn gehabt zu haben, hatte ihn aber nicht zu bekehren vermocht. Betrauerte er ihr Dahinscheiden, oder war er erleichtert, dass seine Götter und Geister jetzt wieder freie Bahn hatten? Was würde aus den Ipicas werden, die zum Christentum übergetreten waren, jetzt, da Rachel nicht mehr bei ihnen war?

Er musste an die shalyuns denken, die Zauberheiler in den Dörfern, die Rachel das Leben schwergemacht hatten. Bestimmt feierten sie ihren Tod und setzten den von ihr Bekehrten zu. Sie hatte einen guten Kampf gekämpft, jetzt ruhte sie in Frieden.