Mit großer Aufmerksamkeit las Josh den Bericht eines Missionars, der sieben Jahre lang unter einer Art Wetterschutzdach im Urwald gelebt und sich bemüht hatte, so viel von der Sprache des primitiven Stammes zu lernen, dass er sich mit dessen Angehörigen verständigen konnte. Von einem Umgang mit ihm hatten die Indianer, die so gut wie keine Kontakte zur Außenwelt gehabt hatten und deren Leben sich in tausend Jahren kaum geändert hatte, kaum etwas wissen wollen. Schließlich war er ein Weißer aus Missouri, der mit seinem Rucksack in ihrem Dorf eingetroffen und lediglich imstande gewesen war, »hallo« und »danke« zu sagen. Wenn er einen Tisch haben wollte, baute er sich einen, und seine Nahrung musste er jagen. Fünf Jahre vergingen, bis die Indianer anfingen, ihm zu trauen. Fast sechs Jahre waren um, als er ihnen seine erste Geschichte aus der Bibel erzählte.
Zu seiner Ausbildung hatten Geduld gehört, die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, Sprachen zu lernen, kulturelle Zusammenhänge zu erkennen und dann ganz allmählich mit der Verkündigung von Gottes Wort zu beginnen.
Was für Menschen mussten das sein, die ein so großes Maß an Glauben und Hingabe aufbrachten, dass sie der modernen Gesellschaft entsagten und in eine solche prähistorische Welt eintauchten? Der Missionar schrieb, dass ihn die Indianer erst akzeptiert hatten, als sie merkten, dass er nicht wieder fortgehen würde. Er hatte sich entschieden, auf alle Zeiten bei ihnen zu leben. Er liebte sie und wollte einer von ihnen sein.
Also dürfte wohl auch Rachel in einer Hütte oder unter einem Schutzdach leben, auf einem selbstgebauten Bett schlafen, über einem offenen Feuer kochen, von ihrer Jagdbeute oder dem leben, was sie angebaut hatte, den Kindern Geschichten aus der Bibel und den Erwachsenen das Evangelium nahebringen. Sie wusste nichts von den Ereignissen, den Sorgen und Nöten der Welt und wollte sicher auch nichts von ihnen wissen. Sie war zufrieden. Sie ruhte fest in ihrem Glauben.
Sie aufzustören schien Stafford fast grausam zu sein.
Durban, der all das ebenfalls las, sagte: »Womöglich finden wir sie nie. Es gibt da kein Telefon und keinen Strom; man muss über das Gebirge marschieren, um diese Leute zu erreichen.«
»Uns bleibt keine Wahl«, sagte Josh.
»Haben wir schon Kontakt mit World Tribes aufgenommen?«
»Das machen wir im Lauf des Tages.«
»Was wollen Sie denen sagen?«
»Das weiß ich noch nicht. Jedenfalls nicht, dass wir nach einer ihrer Missionarinnen suchen, weil sie gerade elf Milliarden Dollar geerbt hat.«
»Das ist der Bruttobetrag.«
»Auch nach Steuern wird ein nettes Sümmchen übrigbleiben.«
»Was sagen wir denen also?«
»Dass es sich um eine dringende juristische Angelegenheit handelt und wir Rachel persönlich sprechen müssen.« Eins der im Flugzeug installierten Faxgeräte begann zu summen und Aktennotizen auszuspucken. Die erste kam von Joshs Sekretärin und enthielt eine Liste der am Vormittag eingegangenen Anrufe - fast alle waren von Anwälten der Phelan-Erben. Zwei Reporter hatten ebenfalls angerufen.
Die jungen Kollegen schickten, was sie über die unterschiedlichen Aspekte des in Virginia geltenden Rechts gefunden hatten. Mit jeder Seite, die Josh und Durban lasen, gewann das offenbar in aller Eile niedergeschriebene Testament des alten Troy an Durchsetzbarkeit.
Zu Mittag servierte die Stewardess belegte Brote und Obst. Sie blieb im hinteren Teil der Kabine und tauchte immer genau dann auf, wenn die Kaffeetassen der beiden Männer leer waren.
Als sie in Jackson Hole landeten, war der Himmel klar. Links und rechts der Landebahn lagen vom Schneepflug aufgetürmte Schneemassen. Stafford und Durban verließen das Flugzeug und stiegen nach rund fünfundzwanzig Metern in einen Sikorsky S-76C um, Troys Lieblingshubschrauber. Zehn Minuten später schwebten sie über seiner geliebten Ranch. Böen ließen den Hubschrauber auf und ab tanzen, so dass Durban bleich im Gesicht wurde. Als Josh langsam und ziemlich nervös eine Tür aufschob, fuhr ihm ein eiskalter Windstoß ins Gesicht.
Der Pilot hielt die Maschine auf sechshundert Meter Höhe, während Josh die kleine schwarze Urne entleerte. Sogleich trug der Wind Troys Überreste in alle Richtungen, so dass die Asche längst verschwunden war, bevor sie den Schnee am Boden erreichen konnte. Als die Urne leer war, schloss Josh die Tür. Hand und Arm waren ihm fast erfroren.
Die Stämme und Balken, aus denen das Gebäude im Stil einer Blockhütte erbaut war, ließen es rustikal erschei-
nen. Doch mit einer Grundfläche von gut tausend Quadratmetern war es alles andere als eine Hütte. Troy hatte es von einem Schauspieler gekauft, dessen Karriere den Bach runtergegangen war.
Ein in Cordsamt gekleideter Butler nahm ihr Gepäck, und ein Dienstmädchen machte ihnen Kaffee. Durban bewunderte die ausgestopften Jagdtrophäen an den Wänden, während Josh in der Kanzlei anrief. Ein Feuer brannte im Kamin, und die Köchin erkundigte sich nach ihren Wünschen für das Abendessen.
Montgomery, ein Mann, den Stafford persönlich ausgesucht hatte und der seit vier Jahren in der Kanzlei arbeitete, verlief sich dreimal im Häusergewirr von Houston, bis er die Zentrale der World Tribes Missions fand, die ihre Räume im Erdgeschoss eines fünfstöckigen Hauses hatte. Er parkte seinen Mietwagen und rückte sich die Krawatte zurecht.
Zweimal hatte er mit Mr. Trill telefoniert, und obwohl er zu ihrer Verabredung eine ganze Stunde zu spät kam, schien das nichts auszumachen. Zwar war Mr. Trill höflich und zurückhaltend, machte aber nicht den Eindruck, besonders hilfsbereit zu sein. Nach Austausch der üblichen Floskeln fragte er: »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich brauche einige Angaben über eine Ihrer Missionarinnen «, sagte Montgomery.
Trill nickte und schwieg.
»Sie heißt Rachel Lane.«
Trills Augen wanderten umher, als versuche er, sie sich vorzustellen. »Der Name kommt mir nicht bekannt vor. Allerdings haben wir auch viertausend Leute draußen.«
»Sie arbeitet in der Nähe der Grenze zwischen Brasilien und Bolivien.«
»Was wissen Sie über sie?«
»Nicht viel. Aber wir müssen sie finden.«
»Wozu?«
»Eine juristische Angelegenheit«, sagte Montgomery und zögerte gerade lange genug, um diese Außage verdächtig klingen zu lassen.
Trill runzelte die Brauen und legte die Ellbogen dicht an den Körper. Sein angedeutetes Lächeln verschwand. »Gibt es Schwierigkeiten?« fragte er.
»Nein. Aber die Sache ist ziemlich dringend. Wir müssen unbedingt mit ihr sprechen.«
»Lässt sich das nicht auf dem Postweg erledigen?«
»Leider nein. Sie muss an der Sache mitwirken und außerdem einen Schriftsatz unterschreiben.«
»Vermutlich handelt es sich um eine vertrauliche Angelegenheit.«
»Äußerst vertraulich.«
Etwas klickte, und Trills Stirnfalten glätteten sich ein wenig. »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.« Er verschwand aus dem Raum, und Montgomery hatte Gelegenheit, die spartanische Einrichtung zu betrachten. Der einzige Schmuck im Raum war eine Anzahl vergrößerter Aufnahmen von Indianerkindern an den Wänden.
Trill war wie ausgewechselt, als er zurückkehrte. Er blieb stehen und sagte förmlich, ohne zu lächeln und ohne die geringste Bereitschaft, ihm behilflich zu sein: »Tut mir leid, Mr. Montgomery. Wir können nichts für Sie tun.«
»Befindet sie sich in Brasilien?«
»Bedaure.«
»Bolivien?«
»Bedaure.«
»Gibt es sie überhaupt?«
»Ich kann Ihre Fragen nicht beantworten.«
»Nichts?«
»Nichts.«
»Kann ich mit Ihrem Vorgesetzten sprechen?«
»Sicher.«
»Wo ist er?«
»Im Himmel.«
Nach dem Abendessen, das aus gewaltigen Steaks mit Pilzsoße bestand, zogen sich Josh Stafford und Tip Durban in einen wohnlichen Aufenthaltsraum zurück, in dem ein Feuer brannte. Ein anderer Butler, ein Mexikaner in gestärkten Jeans und weißem Jackett, stellte ihnen sehr alten schottischen Single-Malt-Whisky aus Mr. Phelans Beständen hin. Dazu ließen sie sich Havannazigarren bringen. Auf einer irgendwo versteckten Stereoanlage sang Pavarotti Weihnachtslieder.