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Wie jeden Morgen seit fast vier Monaten trat er ans Fenster und warf einen Blick auf das Shenandoah-Tal neunhundert Meter unter ihm. Auch dort war alles weiß, und ihm fiel ein, dass bald Weihnachten war.

Er würde rechtzeitig zum Fest herauskommen. Das hatten sie - seine Ärzte und Josh Stafford - ihm versprochen. Beim Gedanken an Weihnachten wurde er melancholisch. In nicht allzu ferner Vergangenheit hatte es einige recht angenehme Weihnachtsfeiern gegeben, als die Kinder noch klein waren und sein Leben in geordneten Bahnen verlief. Jetzt waren die Kinder fort, teils erwachsen, teils mit ihren Müttern fortgegangen, und das letzte, was Nate wollte, war ein weiteres Weihnachten in einer Kneipe, bei dem er mit anderen Betrunkenen, denen es genauso dreckig ging, Weihnachtslieder sang und sich den Anschein von Fröhlichkeit gab.

Fern im weißen und stillen Tal bewegten sich einige Autos wie Ameisen.

Man erwartete von ihm, dass er zehn Minuten lang meditierte, entweder im Gebet oder mit Yoga-Übungen, die man ihm in Walnut Hill beizubringen versucht hatte. Statt dessen machte er Übungen zur Stärkung seiner Bauchmuskulatur und ging dann schwimmen.

Das Frühstück, das er zusammen mit Sergio einnahm, der zugleich als sein Berater, Therapeut und Guru fungierte, bestand aus schwarzem Kaffee und einem Muffin. Während der letzten vier Monate war Sergio, der alles über Nate O'Rileys elendes Leben wusste, sein bester Freund gewesen.

»Du bekommst Besuch«, sagte Sergio.

»Wer ist es?«

»Mr. Stafford.«

»Wunderbar.«

Jeder Kontakt zur Außenwelt war willkommen, in erster Linie, weil es so selten vorkam. Josh hatte ihn einmal pro Monat besucht. Zwei weitere gute Freunde aus der Kanzlei hatten einmal die dreistündige Autofahrt von Washington auf sich genommen, doch sie hatten viel zu tun, was Nate verstand.

Fernsehen war in Walnut Hill verboten - wegen der Bierreklame und weil das Trinken in so vielen Programmen verherrlicht wurde. Aus demselben Grunde enthielt man ihnen die meisten Zeitschriften vor. Nate war das gleichgültig. Nach vier Monaten ließen ihn die Dinge kalt, die sich im Capitol, in der Wall Street oder im Nahen Osten ereigneten.

»Wann?«

»Am späten Vormittag.«

»Nach meinem Konditionstraining?«

»Natürlich.«

Nichts störte das Training, eine zweistündige Orgie aus Schweiß, Knurren und Brüllen unter der Aufsicht einer in körperlicher Hochform befindlichen sadistischen Trainerin, die ihm persönlich zugeteilt war. Insgeheim bewunderte er sie.

Er ruhte sich gerade in seiner Suite aus, wobei er eine Blutapfelsine aß und wieder ins Tal hinabsah, als Josh eintraf.

»Du siehst großartig aus«, sagte Josh. »Wie viel hast du abgenommen?«

»Sechs Kilo«, erwiderte Nate und tätschelte seinen flachen Bauch.

»Richtig schlank. Vielleicht sollte ich mich auch eine Weile hier einmieten.«

»Kann ich nur empfehlen. Die Mahlzeiten werden ohne eine Spur von Fett und Geschmack von einem Koch mit einem starken Dialekt zubereitet. Die Portionen sind halb so groß wie eine Untertasse, du beißt zweimal rein und bist fertig. Wenn du schön langsam kaust, dauern Mittag- und Abendessen etwa sieben Minuten.«

»Für tausend Dollar am Tag kann man schließlich erstklassige Verpflegung erwarten.«

»Hast du mir ein bißchen Knabberkram mitgebracht, Josh? Vielleicht 'ne Tüte Kartoffelchips oder Kekse? Du hast bestimmt in deiner Aktentasche was versteckt.«

»Tut mir leid, Nate. Ich bin sauber.«

»Ein paar Mais -Chips oder wenigstens Schokolinsen?«

»Tut mir leid.«

Nate aß ein Stück von seiner Apfelsine. Sie saßen nebeneinander und genossen die Aussicht. Mehrere Minuten vergingen.

»Wie geht es dir denn so?« fragte Josh.

»Ich muss hier raus, Josh, bevor ich zum Roboter mutiere.«

»Dein Arzt sagt, noch eine Woche oder so.«

»Ist ja toll. Und dann?«

»Wir werden sehen.«

»Was heißt das?«

»Das heißt, wir werden sehen.«

»Mach schon, Josh!«

»Wir werden in Ruhe abwarten und sehen, was passiert.«

»Kann ich in die Kanzlei zurück, Josh? Sag es mir.«

»Nicht so hastig, Nate. Du hast Feinde.«

»Wer hat die nicht? Immerhin bist du der Chef. Die Burschen werden tun, was du sagst.«

»Du hast da ein paar Probleme.«

»Ich hab tausend Probleme. Aber du kannst mich nicht auf die Straße setzen.«

»Die Sache mit deinem finanziellen Ruin kriegen wir hin. Das mit der Anklage ist nicht so einfach.«

Nein, das war es nicht, und Nate konnte das auch nicht ohne weiteres abtun. Von 1992 bis 1995 hatte er es unterlassen, dem Internal Revenue Service sechzigtausend Dollar sonstige Einnahmen anzugeben.

Er warf die Apfelsinenschale in einen Abfallbehälter und fragte: »Und was soll ich tun? Den ganzen Tag im Haus rumhocken?«

»Wenn du Glück hast.«

»Was heißt das schon wieder?«

Josh musste mit Umsicht vorgehen. Nate kam gerade aus einem tiefen schwarzen Loch hervor. Überraschungen

aller Art mussten vermieden werden.

»Meinst du, ich muss ins Gefängnis?« fragte Nate.

»Troy Phelan ist tot«, sagte Josh, und Nate b rauchte einen Augenblick, um dem Gedankensprung zu folgen. »Ach ja, Mr. Phelan«, sagte er.

Nate hatte in der Kanzlei seinen eigenen kleinen Flügel am Ende eines langen Ganges im fünften Stock gehabt, wo er mit einem weiteren Anwalt und drei Anwaltsgehilfen Klagen gegen Ärzte ausarbeitete. Mit dem Betrieb der übrigen Kanzlei verband sie wenig. Zwar wusste er, um wen es sich bei Troy Phelan handelte, aber er hatte mit dessen Fällen nie zu tun gehabt. »Das tut mir leid«, sagte er.

»Du weißt es also noch gar nicht?«

»Ich erfahre hier nichts. Wann ist er gestorben?«

»Vor vier Tagen. Er ist von seiner Dachterrasse runtergesprungen.«

»Ohne Fallschirm?«

»Du hast es erfasst.«

»Und er konnte nicht fliegen.«

»Nein. Er hat es auch nicht versucht. Ich hab es mit angesehen. Er hatte gerade zwei Testamente unterschrieben -das erste von mir aufgesetzt; das zweite und letzte hatte er eigenhändig verfasst. Dann ist er losgelaufen und gesprungen.«

»Und du hast es gesehen?«

»Ja.«

»Mann! Das muss ja ein ziemlich verrückter Hund gewesen sein.«

Eine Spur Belustigung lag in Nates Stimme. Vor fast vier Monaten hatte ihn ein Zimmermädchen in einem Motel mit dem Magen voller Tabletten und Rum aufgefunden.

»Er hat alles einer unehelichen Tochter hinterlassen, von der ich noch nie gehört hatte.«

»Ist sie verheiratet? Wie sieht sie aus?«

»Ich weiß es nicht. Du sollst sie suchen.«

»Ich?«

»Ja.«

»Ist sie denn verschwunden?«

»Wir wissen nicht, wo sie sich aufhält.«

»Wie viel hat er -«

»So um die elf Milliarden, brutto.«

»Weiß sie das?«

»Nein. Sie weiß nicht mal, dass er tot ist.«

»Weiß sie denn wenigstens, dass Troy ihr Vater ist?«

»Ich habe keine Ahnung, was sie weiß.«

»Wo ist sie?«

»Vermutlich in Brasilien. Sie ist Missionarin bei einem Indianerstamm, der am Ende der Welt lebt.«

Nate stand auf und ging im Zimmer umher. »Ich war mal eine Woche in Brasilien«, sagte er. »Als Student. Es war Karneval, auf den Straßen von Rio haben nackte Frauen getanzt, dann die Samba-Bands, eine Million Menschen, die die ganze Nacht durchgefeiert haben.« Seine Stimme verlor sich, während die Erinnerung auftauchte und rasch wieder dahinschwand.

»Hier geht es nicht um Karneval.«