»Nein, bestimmt nicht. Möchtest du Kaffee?«
»Ja, schwarz.«
Nate drückte einen Knopf an der Wand und sagte seinen Wunsch in die Gegensprechanlage. Die tausend Dollar am Tag schlössen auch einen Zimmerservice ein.
»Wie lange wäre ich weg?« fragte er und setzte sich wieder ans Fenster.
»Ich würde sagen, zehn Tage. Es eilt nicht, und vielleicht ist die Frau schwer zu finden.«
»In welchem Landesteil soll ich suchen?«
»Im Westen, in der Nähe der bolivianischen Grenze. Der Verein, für den sie arbeitet, schickt seine Eeute in erster Linie in den Urwald, wo sie sich um die Indianer kümmern, die da wie in der Steinzeit leben. Wir haben uns ein bißchen mit der Sache beschäftigt. Es sieht so aus, als ob sie ihren besonderen Stolz daransetzten, die abgelegensten Menschen auf dem Erdkreis zu finden.«
»Du willst also, dass ich zuerst den richtigen Urwald finde, dann da reinmarschiere, um den richtigen Indianerstamm aufzustöbern und die Leute irgendwie davon zu überzeugen, dass ich ein wohlmeinender Anwalt aus den Vereinigten Staaten bin und sie mir helfen müssen, eine Frau zu finden, die höchstwahrscheinlich gar nicht gefunden werden möchte.«
»So in der Art.«
»Könnte Spaß machen.«
»Sag dir einfach, dass es ein Abenteuer ist.«
»Außerdem hältst du mich damit aus der Kanzlei raus, Josh. Stimmt doch? Ein Manöver, mit dem du dir Luft verschaffst, während du überlegst, wie es weitergehen soll.« »Irgend jemand muss da runter, Nate. Ein Anwalt unserer Kanzlei muss dieser Frau persönlich gegenübertreten, ihr eine Kopie des Testaments zeigen, ihr erklären, was es damit auf sich hat, und herausfinden, was sie tun will. Dafür kommt weder einer unserer Anwaltsgehilfen noch ein brasilianischer Anwalt in Frage.«
»Und warum ich?«
»Weil alle anderen bis über die Ohren in Arbeit stecken. Du weißt doch, wie das ist. Schließlich hast du selbst mehr als zwanzig Jahre lang so gelebt. Alles kreist um die Kanzlei, du isst im Gericht zu Mittag, schläfst im Zug. Außerdem könnte es dir gut tun.«
»Willst du dafür sorgen, dass ich nicht auf der Straße lande, Josh? Das ist Zeitverschwendung. Ich bin clean. Clean und trocken. Für mich gibt es keine Kneipen mehr, keine Feiern, keine Dealer. Ich bin clean, Josh, und bleibe es. Für alle Zeiten.«
Josh nickte zustimmend, weil er vermutete, dass das von ihm erwartet wurde. Aber er hatte das schon mal gehört. »Ich glaube dir«, sagte er und wünschte aus ganzem Herzen, dass es zutraf.
Es klopfte, und jemand brachte ein silbernes Kaffeetablett.
Nach einer Weile fragte Nate: »Was ist mit der Anklage? Ich darf das Land nicht verlassen, solange die Sache nicht erledigt ist.«
»Ich hab mit dem Richter gesprochen und ihm erklärt, dass es eilt. Du sollst in neunzig Tagen vor ihm erscheinen.«
»Ist er umgänglich?«
»Der reinste Weihnachtsmann.«
»Meinst du, dass er mir eine Chance gibt, falls ich verurteilt werde?«
»Bis dahin ist noch ein ganzes Jahr Zeit. Wir wollen uns darüber später Gedanken machen.«
Nate saß an einem Tischchen über seinen Kaffee gebeugt und sah in die Tasse, während er sich Fragen überlegte. Josh saß ihm gegenüber und sah nachdenklich in die Ferne.
»Und wenn ich nein sage?« fragte Nate.
Josh zuckte die Achseln, als sei das unerheblich. »Ist nicht weiter schlimm. Wir finden jemand anders. Stell dir einfach vor, es ist ein Urlaub für dich. Du hast ja wohl keine Angst vor dem Urwald.«
»Natürlich nicht.«
»Dann geh los und amüsier dich.«
»Und wann müsste ich aufbrechen?«
»In einer Woche. Für Brasilien brauchst du ein Visum. Dafür müssen wir ein paar Beziehungen spielen lassen. Außerdem sind hier noch ein paar Dinge zu klären.«
In Walnut Hill wurde von den Insassen erwartet, dass sie sich mindestens eine Woche lang auf die Entlassung vorbereiten ließen, bevor man sie wieder den Wölfen zum Fraß vorwarf. Man hatte sie verwöhnt, ausgenüchtert, einer Gehirnwäsche unterzogen sowie körperlich, geistig und seelisch auf Vordermann gebracht. Jetzt wurden sie für den Wiedereintritt in die Gesellschaft ertüchtigt.
»Eine Woche«, wiederholte Nate für sich.
»Ja, etwa eine Woche.«
»Und es dauert zehn Tage?«
»Das ist nur so eine Vermutung von mir.«
»Das heißt, ich werde über die Feiertage da unten sein.«
»So dürfte es außehen.«
»Eine großartige Idee.« .
»Du möchtest wohl Weihnachten gern ausfallen lassen?«
»Ja.«
»Und was ist mit deinen Kindern?«
Er hatte vier, zwei von jeder Frau. Eins stand kurz vor dem Studienabschluss, eins war im College, und zwei besuchten die Mittelschule.
Er rührte seinen Kaffee um und sagte: »Ich hab nichts von ihnen gehört, Josh. Seit fast vier Monaten bin ich hier, und von keinem auch nur ein Wort.« Seine Stimme klang unglücklich, und seine Schultern hingen herab. Er sah einen Augenblick lang ziemlich zerbrechlich aus.
»Das tut mir leid«, sagte Josh.
Josh hatte allerdings von den Familien gehört. Beide Frauen ließen sich von Anwälten vertreten, und die hatten angerufen, um festzustellen, ob es Geld zu holen gab. Nates Ältester studierte an der Northwestern University und brauchte Geld für seine Studiengebühren. Er hatte persönlich bei Josh angerufen, nicht etwa, um sich nach dem Befinden oder dem Aufenthaltsort seines Vaters zu erkundigen, sondern, weit wichtiger, nach der Höhe seiner vorjährigen Gewinnbeteiligung an der Kanzlei. Er war anmaßend und unhöflich, und Josh hatte ihm schließlich gesagt, er solle sich zum Teufel scheren.
»Ich will nichts mit all den Feiern und der aufgesetzten Fröhlichkeit zu tun haben«, sagte Nate. Er stand auf und ging auf bloßen Füssen durch das Zimmer.
»Heißt das, du fährst hin?«
»Liegt es am Amazonas?«
»Nein, im Pantanal, dem größten Überschwemmungsgebiet' der Welt.« »Mit Piranhas, Anakondas und Alligatoren?«
»Na klar doch.«
»Gibt es da auch Kannibalen?«
»Nicht mehr als in Washington.«
»Ernsthaft.«
»Nein, wohl nicht. Die Leute haben in elf Jahren keinen einzigen ihrer Missionare verloren.«
»Und was ist mit Anwälten?«
»Bestimmt würde es ihnen großen Spaß machen, einen zu filetieren. Hör mal, Nate. Die Sache ist nicht besonders schwierig. Wenn ich nicht so viel zu tun hätte, würde ich selbst gern hinfahren. Das Pantanal ist ein großes ökologisches Reservat.«
»Ich hab noch nie im Leben davon gehört.«
»Weil du schon seit Jahren nicht mehr reist. Du warst immer nur in deinem Büro und im Gerichtssaal.« »Abgesehen von den Entwöhnungskuren.«
»Mach mal Urlaub. Lern einen ändern Teil der Welt kennen.«
Nate nahm einen großen Schluck Kaffee und steuerte dann das Gespräch in eine andere Richtung. »Und was ist danach? Krieg ich dann mein Büro wieder? Bleibe ich Teilhaber?«
»Möchtest du das denn?«
»Selbstverständlich«, sagte er, zögerte aber ein wenig.
»Bestimmt?«
»Was sollte ich wohl sonst wollen?«
»Was weiß ich? Immerhin ist das jetzt schon deine vierte Entziehungskur in zehn Jahren. Es wird immer schlimmer mit dir. Wenn du jetzt rauskämst, würdest du auf dem kürzesten Weg in die Kanzlei gehen und sechs Monate lang der beste Anwalt für Kunstfehlerverfahren sein. Du würdest die alten Freunde meiden, die Kneipen und die Stadtviertel, in denen du früher verkehrt hast. Nichts als Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit. Es würde nicht lange dauern, und du hättest ein paar großartige Prozesse. Du würdest große Erfolge feiern und unter großem Druck stehen. Dann würdest du einen Gang zulegen, und ein Jahr später würde sich irgendwo ein Riss zeigen. Ein alter Freund trifft dich auf der Straße, eine Frau aus einem anderen Leben taucht auf. Vielleicht läuft ein Prozess nicht so gut, und das Urteil entspricht nicht deinen Erwartungen. Ich würde dich genau im Auge behalten, aber ich kann nicht vorAussagen, wann du wieder abrutschst.«