»Könntest du das abschalten?« fragte Nate schließlich.
»Was?«
»Das Radio.«
Josh drückte einen Knopf, und die Musik, die er gar nicht wahrgenommen hatte, hörte auf.
»Wie fühlst du dich?« fragte er.
»Könntest du am nächsten Laden anhalten?«
»Klar. Warum?«
»Ich möchte mir einen Sechserpack kaufen.«
»Sehr lustig.«
»Für 'ne große Cola würde ich glatt jemand umbringen.«
Sie kauften in einem Laden an der Straße Erfrischungsgetränke und Erdnüsse. Als ihnen die Frau an der Kasse munter »Frohe Weihnachten« wünschte, brachte Nate keine Antwort zustande. Im Wagen erklärte Josh, er fahre zum Dulles Airport, noch knapp zwei Stunden.
»Dein Flug geht nach Sao Paulo. Von da kannst du nach drei Stunden Aufenthalt eine Maschine nach Campo Grande nehmen. «
»Sprechen die Leute da Englisch?«
»Nein. Es sind Brasilianer. Sie sprechen Portugiesisch.«
»Natürlich.«
»Aber am Flughafen können bestimmt welche Englisch.«
»Wie groß ist dieses Campo Grande?«
»Eine halbe Million Einwohner. Aber das ist nicht dein Ziel. Von dort nimmst du einen Zubringerflug nach Corumba. Die Städte werden immer kleiner.«
»Und die Flugzeuge auch.«
»Ja, genau wie bei uns.«
»Aus irgendeinem Grund sagt mir die Vorstellung eines brasilianischen Zubringerflugs nicht besonders zu. Ich bin ziemlich nervös, Josh.«
»Du kannst auch sechs Stunden mit dem Bus fahren.«
»Und weiter.«
»In Corumba triffst du dich mit einem Anwalt namens Valdir Ruiz. Er kann Englisch.«
»Hast du mit ihm gesprochen?«
»Ja.«
»Und verstanden, was er gesagt hat?«
»Ja, jedenfalls das meiste. Er ist sehr nett. Er arbeitet für etwa fünfzig Dollar die Stunde, falls du das für möglich hältst.«
»Wie groß ist dieses Corumba?«
»Etwa neunzigtausend Einwohner.«
»Das heißt, man findet da was zu essen, zu trinken und einen Platz zum Schlafen.«
»Ja, Nate, du bekommst ein Zimmer. Das ist mehr, als du hier hast.«
»Autsch.«
»Tut mir leid. Möchtest du einen Rückzieher machen?«
»Ja, aber ich mach es nicht. Ich kenne kein anderes Ziel, als dies Land zu verlassen, bevor ich noch ein einziges Mal Jingle Bells höre. Ich würde die nächsten zwei Wochen im Straßengraben übernachten, wenn das der Preis dafür wäre, mir nicht dies vorweihnachtliche Gedudel anhören zu müssen.«
»Lass gut sein. Es ist kein Straßengraben, sondern ein hübsches Hotel.«
»Und was soll ich mit diesem Ruiz machen?«
»Er sucht dir einen Führer, der dich ins Pantanal bringt.«
»Wie komm ich da hin? Mit dem Flugzeug, mit dem Hubschrauber?«
»Wahrscheinlich mit dem Boot. Wenn ich das richtig verstanden habe, besteht das ganze Gebiet da unten aus Sümpfen und Wasserläufen.«
»Außerdem gibt es da Schlangen, Alligatoren und Piranhas.«
»Was für ein kleiner Feigling du doch bist. Ich dachte, du wolltest da hin.«
»Will ich auch. Fahr schneller.«
»Immer mit der Ruhe.« Josh wies auf eine Aktentasche hinter dem Beifahrersitz. »Mach die auf«, sagte er. »Die sollst du mitnehmen.«
Nate zog sie hervor und knurrte: »Die wiegt ja eine Tonne. Was ist da drin?«
»Lauter gute Sachen.«
Die neue, braune Ledertasche sah aus, als wäre sie schon lange in Gebrauch gewesen, und sie war groß genug für eine kleine juristische Handbibliothek. Nate stellte sie sich auf die Knie und öffnete die Verschlüsse. »Spielzeug«, sagte er.
»Das winzige graue Gerät da ist ein digitales Telefon. Der letzte Stand der Technik«, sagte Josh mit offenbarem Stolz auf die von ihm zusammengetragenen Sachen. »Valdir wählt dich in das örtliche Netz ein, sobald du in Corumba bist.«
»Das heißt, die haben in Brasilien Telefone.«
»Nicht zu knapp. Die Telekommunikation ist da unten eine Wachstumsindustrie. Alle Leute laufen da mit Handys rum.«
»Die armen Menschen. Und was ist das da?«
»Ein Computer.«
»Was zum Teufel soll ich damit?«
»Es ist das neueste auf dem Gebiet. Sieh nur, wie klein!«
»Ich kann nicht mal die Zeichen auf der Tastatur lesen.«
»Du kannst ihn mit dem Telefon verbinden und auf diese Weise deine E-Mails empfangen.«
»Mann! Und was hilft mir das mitten im Sumpf, wo es nichts als Schlangen und Alligatoren gibt?«
»Das hängt von dir ab.«
»Josh, ich hab nicht mal im Büro mit E-Mail gearbeitet.«
»Das ist nicht für dich, sondern für mich. Ich möchte immer mit dir in Verbindung bleiben und sofort Bescheid wissen, wenn du die Frau findest.«
»Und was ist das da?«
»Das beste Spielzeug in der ganzen Kiste. Ein Satelliten-Telefon. Du kannst es überall auf der Welt einsetzen. Solange du darauf achtest, dass die Batterien geladen sind, kannst du mich immer erreichen.«
»Du hast doch gerade gesagt, dass die da unten ein großartiges Telefonsystem haben.«
»Nicht im Pantanal. Das sind zweihundertfünfzigtausend Quadratkilometer Schwemmland, in dem es keine einzige Stadt und nur sehr wenige Menschen gibt. Das Satelliten-Telefon ist sozusagen die Nabelschnur, die dich mit der Außenwelt verbindet, sobald du Corumba verlassen hast.«
Nate öffnete das Etui aus Hartplastik und betrachtete aufmerksam das glänzende kleine Telefon. »Wie viel hat dich das
gekostet?« fragte er. »Keinen Cent.«
»Na schön, wie viel hat es den Phelan-Nachlaß gekostet?« »Viertausendvierhundert Dollar. Es ist jeden einzelnen davon wert.«
»Haben meine Indianer denn Strom?« Nate blätterte in der Betriebsanleitung.
»Natürlich nicht.«
»Und wie soll ich dann dafür sorgen, dass die Batterien geladen bleiben?«
»Du hast eine Ersatzbatterie. Irgendwas wird dir schon einfallen.«
»Soviel zum Thema Abgeschiedenheit.«
»Es wird sehr abgeschieden sein. Du wirst mir noch für das Spielzeug dankbar sein, wenn du da unten bist.« »Kann ich dir auch jetzt schon danken?«
»Nein.«
»Vielen Dank, Josh. Für alles.«
»Nicht der Rede wert.«
Im Menschengewühl des Abfertigungsgebäudes tranken sie an einem Tischchen, das ein Stück von einem Biertresen entfernt stand, dünnen Espresso und lasen Zeitung. Der Tresen brannte sich tief in Joshs Bewusstsein ein. Nate hingegen schien von dessen Existenz nichts zu merken, obwohl die Heineken-Leuchtreklame kaum zu übersehen war.
Ein dürrer Nikolaus zog müde vorüber und hielt Ausschau nach Kindern, die sich billige Geschenke aus seinem Sack holen konnten. Aus einem Musikautomaten neben dem Tresen sang Elvis >Blue Christmas<. Menschen schoben und stießen sich, der Lärm war unerträglich. Alle schienen für die Feiertage nach Hause fliegen zu wollen.
»Wie fühlst du dich?« fragte Josh.
»Gut. Warum gehst du nicht? Bestimmt hast du was Besseres zu tun.«
»Ich bleibe.«
»Hör mal, Josh. Mir geht es wirklich gut. Wenn du glaubst, ich warte bloß darauf, dass du gehst, damit ich rüber an den Tresen renne und mir den Wodka nur so reinschütte, irrst du dich. Ich hab keinerlei Bedürfnis nach Alkohol. Ich bin trocken und ausgesprochen stolz darauf.«
Josh sah ein wenig verlegen drein, in erster Linie, weil Nate seine Gedanken erraten hatte. Nates Sauftouren waren in der Kanzlei legendär. Falls er der Versuchung erlag, gab es am ganzen Flughafen nicht genug Alkohol, um ihn zufrieden zustellen. »Darüber mach ich mir keine Sorgen«, log er.
»Dann geh. Ich bin alt genug.«
Sie verabschiedeten sich am Flugsteig, umarmten sich und verabredeten, möglichst immer genau zur vollen Stunde Verbindung miteinander aufzunehmen. Nate konnte es nicht abwarten, sich in seinen Sitz in der ersten Klasse fallen zu lassen. Josh hatte tausend Dinge im Büro zu erledigen.