Zwei kleine Vorsichtsmaßnahmen hatte er getroffen. Erstens hatte er für den Flug zwei nebeneinanderliegende Plätze gebucht. Nate konnte am Fenster sitzen, der Sitz zum Gang hin würde frei bleiben. Es wäre zu gefährlich, wenn neben ihm ein durstiger Geschäftsmann säße und sich mit Wein und Whisky vollaufen ließe. Zwar kostete jeder der Plätze hin und zurück über siebentausend Dollar, aber Geld spielte keine Rolle.
Zweitens hatte er mit einem Mitarbeiter der Fluglinie ein ausführliches Gespräch über Nates Entziehungskur geführt. Unter keinen Umständen durfte ihm Alkohol serviert werden. An Bord der Maschine befand sich ein Schreiben von Josh an die Fluggesellschaft, falls man es vorzeigen musste, um Nate zu überzeugen.
Eine Stewardess brachte ihm Orangensaft und Kaffee. Er wickelte sich in eine dünne Decke und sah zu, wie das ins Umland wuchernde Washington unter ihm verschwand, während die Maschine der Fluggesellschaft Varig durch die Wolken emporstieg.
Es war eine Erleichterung für ihn, allem zu entkommen: Walnut Hill und Sergio, der Stadt und ihrer Tretmühle, dem Ärger mit seiner letzten Frau, seiner Zahlungsunfähigkeit und der Auseinandersetzung mit dem IRS. In zehntausend Meter Höhe hatte Nate fast beschlossen, dass er nie zurückkehren würde.
Aber jeder Neueinstieg kostete unmäßig viel Kraft. Immer lauerte die Angst vor einem erneuten Rückfall unmittelbar unter der Oberfläche. Er war schon so oft aus der Entziehung zurückgekehrt, dass er sich wie ein Veteran vorkam, und das war beängstigend. Wie bei Ehefrauen und Prozesserfolgen konnte er jetzt Vergleiche anstellen. Würde es immer wieder dazu kommen?
Beim Abendessen merkte er, dass Josh hinter den Kulissen die Fäden gezogen hatte. Man bot ihm keinen Wein an. Er stocherte mit der Vorsicht eines Menschen im Essen herum, der gerade fast vier Monate damit zugebracht hatte, sämtliche Salatsorten der Welt durchzuprobieren; bis vor wenigen Tagen hatte es für ihn weder Fett noch Zucker gegeben. Das letzte, was er brauchen konnte, war ein verdorbener Magen.
Er döste ein wenig, hatte aber keine Lust zu schlafen. Als vielbeschäftigter Anwalt und Nachtschwärmer hatte er gelernt, mit wenig Schlaf auszukommen. Im ersten Monat in Walnut Hill hatte man ihn so mit Tabletten vollgestopft, dass er zehn Stunden am Tag geschlafen hatte. Wer im Koma liegt, kann sich nicht wehren.
Er stellte seine Spielzeugsammlung auf den leeren Nebensitz und begann, die verschiedenen Betriebsanleitungen durchzugehen. Das Satelliten-Telefon hatte es ihm besonders angetan, obwohl er nicht glauben konnte, dass er es wirklich brauchen würde.
Ein weiteres Telefon erregte seine Aufmerksamkeit. Es war die neueste technische Errungenschaft in der Luftfahrt, ein schmales Gerät, das unauffällig neben seinem Sitz an der Kabinenwand hing. Er nahm ab und rief Sergio in seiner Wohnung an. Sergio saß bei einem späten Abendessen, freute sich aber trotzdem, von ihm zu hören.
»Wo bist du?« wollte er wissen.
»In einer Kneipe«, antwortete Nate mit leiser Stimme, weil die Lichter in der Kabine herunter gedimmt waren. »Sehr witzig.«
»Wahrscheinlich bin ich jetzt über Miami und habe noch acht Stunden vor mir. Ich habe gerade das Telefon hier entdeckt und wollte es mal ausprobieren.«
»Das heißt, es geht dir gut?«
»Blendend. Fehle ich dir?«
»Noch nicht. Ich dir?«
»Ist das dein Ernst? Ich bin ein freier Mensch und fliege dem Dschungel entgegen, wo ich ein herrliches Abenteuer erleben werde. Später wirst du mir fehlen, okay?«
»Okay. Und ruf mich an, wenn du Schwierigkeiten bekommst.«
»Die gibt es diesmal nicht, Serge.«
»Recht so, Nate.«
»Danke, Serge.«
»Nichts zu danken. Ruf mich einfach an.«
Ein Film begann, aber niemand sah hin. Die Stewardess brachte noch einmal Kaffee. Als nächstes rief Nate seine Sekretärin Alice an, eine Frau, die fast zehn Jahre lang hinter ihm hergeräumt und ziemlich unter ihm gelitten hatte. Sie wohnte mit ihrer Schwester in einem alten Haus in Arlington. In den letzten vier Monaten hatte Nate einmal mit ihr gesprochen.
Die Unterhaltung dauerte eine halbe Stunde. Alice schien überglücklich, seine Stimme zu hören. Von seiner Reise nach Südamerika wusste sie angeblich nichts, was ihm ein wenig merkwürdig vorkam, weil sie normalerweise alles wusste. Aber sie gab sich am Telefon zurückhaltend, fast misstrauisch. Der Prozessanwalt Nate witterte Unrat und nahm sie förmlich ins Kreuzverhör.
Sie arbeitete nach wie vor in der Prozessabteilung, saß am selben Schreibtisch wie eh und je und tat mehr oder weniger dasselbe wie sonst auch, nur für einen anderen Anwalt. »Wer ist das?« wollte Nate wissen.
Ein Neuer. Ebenfalls ein Prozessanwalt. Sie antwortete überlegt, und Nate begriff, dass Josh sie persönlich instruiert haben musste. Natürlich war ihm klar gewesen, dass Nate sie anrufen würde, sobald er wieder draußen war.
In welchem Büro saß der Neue? Wer war sein Anwaltsgehilfe? Woher kam er? Wie viele Kunstfehler-Prozesse hatte er bearbeitet? War sie ihm nur vorübergehend zugeteilt?
Alice antwortete ziemlich ausweichend. '
»Wer ist in meinem Büro?« fragte er.
»Niemand. Es ist völlig unberührt. Es liegen sogar noch kleine Aktenstapel in allen Ecken herum.«
»Was tut Kerry?«
»Hat reichlich zu tun und wartet auf Sie.« Kerry war die Anwaltsgehilfin, mit der Nate am liebsten zusammenarbeitete.
Alice wusste auf alles die richtige Antwort und gab kaum etwas preis. Vor allem über den neuen Prozessanwalt sagte sie so gut wie nichts.
»Halten Sie sich bereit«, sagte er, als es nicht mehr viel zu besprechen gab. »Es ist Zeit für ein Comeback.«
»Es war ziemlich langweilig, Nate.«
Langsam legte er auf und hörte sich auf dem Aufzeichnungsgerät noch einmal an, was sie gesagt hatte. Irgend etwas war anders als früher. Josh stand im Begriff, seine Kanzlei umzustrukturieren. Würde Nate dabei auf der Strecke bleiben? Wahrscheinlich nicht, aber seine Tage im Gerichtssaal waren wohl vorüber.
Er beschloss, sich den Kopf darüber später zu zerbrechen. Es gab so viele Leute, die er anrufen musste, und so viele Telefone, mit denen er das tun konnte. Er kannte einen Richter, der vor zehn Jahren dem Alkohol abgeschworen hatte. Ihm wollte er das großartige Ergebnis seiner eigenen Entwöhnung mitteilen. Er konnte auch seine erste Frau anrufen und sie zur Schnecke machen, war aber nicht in der richtigen Stimmung. Außerdem wollte er seine vier Kinder anrufen und sie fragen, warum sie nicht angerufen oder geschrieben hatten.
Statt dessen nahm er einen Aktenordner aus seiner Tasche und begann nachzulesen, was über Mr. Troy Phelan und seinen gegenwärtigen Auftrag darin stand. Um Mitternacht, irgendwo über der Karibik, schlief er ein.
ELF
Eine Stunde vor Sonnenaufgang begann die Maschine ihren Landeanflug. Nate hatte das Frühstück verschlafen, und als er wach wurde, brachte eine Stewardess eilends Kaffee.
Sao Paulo wurde sichtbar, eine Stadt, die sich über gut zweitausend Quadratkilometer ausbreitete. Er hielt den Blick auf das Lichtermeer unter sich gerichtet und fragte sich, wie es möglich war, dass eine einzige Stadt zwanzig Millionen Einwohner hatte.
Der Flugkapitän wünschte den Gästen an Bord einen guten Morgen und sagte dann in raschem Portugiesisch mehrere Sätze, von denen Nate nichts verstand. Die englische Übersetzung, die darauf folgte, war nicht viel
verständlicher. Hoffentlich würde er nicht gezwungen sein, sich mit Gesten und Grunzlauten seinen Weg durch das Land zu bahnen. Einen Augenblick lang machten ihm die Sprachschwierigkeiten Sorge, doch vergaß er sie, als ihn eine hübsche brasilianische Stewardess aufforderte, den Sicherheitsgurt anzulegen.
Im Flughafen, der von Menschen wimmelte, war es heiß. Er holte seine nagelneue Reisetasche vom Gepäckband, ging durch den Zoll, ohne dass jemand auch nur einen Blick darauf warf, und gab sie am Varig-Schalter für den Flug nach Campo Grande erneut auf. Dann suchte er ein Cafe, in dem eine Speisekarte an der Wand hing. Er wies darauf, sagte Espresso, und die Kassiererin tippte den Betrag ein. Sie betrachtete sein amerikanisches Geld zwar missbilligend, gab ihm aber heraus. Ein bras ilianischer Real entsprach einem Dollar. Nate besaß jetzt einige Reais.