Er schlürfte den Kaffee Schulter an Schulter mit einigen ungesittet wirkenden japanischen Touristen. Um ihn herum ertönte ein Sprachengewirr; Deutsch und Spanisch vermischte sich mit dem Portugiesisch der Lautsprecheransagen. Hätte er sich einen Sprachführer gekauft, dann könnte er wenigstens das eine oder andere Wort verstehen.
Allmählich spürte er, wie er sich von der Außenwelt abkoppelte. Inmitten der Menge war er einsam. Er kannte keine Menschenseele. Fast niemand wusste, wo er sich befand, und kaum jemandem war es wichtig. Der Zigarettenrauch der Touristen stieg um ihn herum auf, und er ging rasch in die Haupthalle, wo er die Decke zwei Stockwerke über sich und das Erdgeschoß unter sich sehen konnte. Mit der schweren Aktentasche in der Hand begann er ziellos durch die Menge zu streifen und verfluchte Josh, weil er sie mit soviel unnützem Kram gefüllt hatte.
Er hörte jemanden laut Englisch sprechen und trat näher. Einige Geschäftsleute warteten unweit vom Schalter der United Airlines, und er suchte sich einen Platz in ihrer Nähe. Er hörte, dass es in Detroit schneite und sie unbedingt an Weihnachten zu Hause sein wollten. Sie arbeiteten in Brasilien an einer Pipeline, und schon bald war Nate ihres Gewäschs müde. Sie hatten seine Anwandlung von Heimweh rasch kuriert.
Sergio fehlte ihm. Nach der letzten Entziehungskur hatte die Klinik Nate eine Woche lang in ein Haus zur Wiedereingewöhnung gesteckt, um ihm den Übergang zurück ins Alltagsleben zu erleichtern. Ihm war das Haus ebenso zuwider gewesen wie der Tagesablauf dort, aber im Rückblick war die Idee nicht unvernünftig. Man brauchte einige Tage, um sich wieder zurechtzufinden. Vielleicht hatte Sergio recht. Er rief ihn von einer Telefonzelle aus an und weckte ihn. In Sao Paulo war es halb sieben, in Virginia aber erst halb fünf.
Es machte Sergio nichts aus. Das gehörte mit zum Job.
In der Maschine, die nach Campo Grande flog, einer Boeing 727, gab es weder eine erste Klasse noch auch nur einen freien Platz. Angenehm überrascht merkte Nate, dass sämtliche Fluggäste ihr Gesicht in bemerkenswert viele verschiedene Tageszeitungen steckten, die ebenso gut aufgemacht und modern waren wie die in den Vereinigten Staaten. Die Menschen, die sie lasen, schienen geradezu versessen auf Neuigkeiten zu sein. Vielleicht war Brasilien doch kein so zurückgebliebenes Land, wie er angenommen hatte. Die Leute konnten lesen! Das Flugzeug war sauber und im Inneren frisch überholt. Der Getränkewagen bot Cola und Sprite an; Nate fühlte sich fast wie zu Hause.
Ohne die Informationsschrift über die Indianer, die er auf dem Schoß liegen hatte, weiter zu beachten, ließ er von seinem Fensterplatz in der zwanzigsten Reihe aus den Blick über die sich weithin erstreckende Hügellandschaft gleiten. Der leuchtend orangefarbene Boden war mit üppigem Grün bedeckt und in wildem Durcheinander von roten, unbefestigten Straßen durchzogen, die von einer kleinen Ansiedlung zur nächsten führten. Fernstraßen schien es so gut wie keine zu geben. Hier und da sah man eine Ranch.
Dann wurde eine befestigte Straße mit Fahrzeugen sichtbar. Die Maschine verlor an Höhe, und der Flugkapitän teilte ihnen mit, dass sie gleich in Campo Grande landen würden. In der Innenstadt drängten sich die Häuser dicht aneinander, man sah Hochhäuser, das unvermeidliche Fußballstadion und viele Straßen voller Autos. Alle Wohngebäude schienen mit roten Ziegeln gedeckt zu sein. Dank der sprichwörtlichen Tüchtigkeit einer großen Kanzlei war Nate im Besitz eines - zweifellos vom jüngsten Sozius, der für dreihundert Dollar die Stunde arbeitete, zusammengestellten - Informationsblatts, das Campo Grande auf eine Weise beschrieb, als sei die Stadt für die Angelegenheit, die zu erledigen er gekommen war, von entscheidender Bedeutung: sechshunderttausend Einwohner, Viehhandelszentrum, viele Gauchos, rasches Wachstum, moderne Infrastruktur. Zwar waren diese Angaben ganz nett, aber warum sollte er sich damit belasten? Er würde dort nicht einmal die Nacht verbringen. Der Flughafen kam ihm für eine Stadt dieser Größe bemerkenswert klein vor. Dann begriff er, dass er alles mit den Vereinigten Staaten verglich. Damit musste Schluss sein. Als er aus dem Flugzeug stieg, traf ihn die Hitze wie ein Schlag. Zwei Tage vor Weihnachten betrug die Temperatur dort mindestens zweiunddreißig Grad. Er blinzelte zur strahlenden Sonne empor und hielt sich mit einer Hand am Geländer fest, als er die Treppe zum Vorfeld hinabstieg.
Er schaffte es, im Flughafenrestaurant ein Mittagessen zu bestellen, und als es kam, sah er voll Freude, dass es sogar genießbar war. Zu einem überbackenen Hühnersandwich gab es Pommes, die so groß waren wie in irgendeinem Schnellrestaurant daheim. Während er bedächtig aß, richtete er den Blick abwechselnd auf die sonderbare Semmel, in der das Hühnerfleisch steckte, denn so eine hatte er noch nie gesehen, und auf die Landebahn. Als er mit seiner Mahlzeit zur Hälfte fertig war, landete eine zweimotorige Turboprop-Maschine von Air Pantanal und rollte ans Flughafengebäude. Sechs Personen stiegen aus.
Er hörte auf zu kauen, während er versuchte, einen plötzlichen Anflug von Angst zu überwinden. Zubringerflüge
tauchten immer wieder in den Zeitungen und im Programm des Senders CNN auf, nur dass zu Hause niemand je etwas davon erfahren würde, wenn diese Maschine abstürzte.
Aber eigentlich sah das Flugzeug recht stabil und sauber aus. Es schien sogar ziemlich modern zu sein, und die Piloten erwiesen sich als gutgekleidete Berufsflieger. Nate aß weiter. Positiv denken, mahnte er sich.
Eine Stunde lang durchstreifte er das kleine Abfertigungsgebäude. An einem Zeitschriftenkiosk erstand er einen portugiesischen Sprachführer und begann sich Wörter einzuprägen. Er las Werbeplakate für einen Abenteuerurlaub im Pantanal, der Ökotourismus genannt wurde. Man konnte Autos mieten. Es gab einen Stand, wo man Geld wechseln konnte, eine Bar mit Bierreklamen und auf einem Regal aufgereihte Whiskyflaschen. In der Nähe des Haupteingangs stand ein schlanker künstlicher Weihnachtsbaum mit einer einzelnen Lichterkette. Nate sah zu, wie die Birnchen zu den Klängen eines brasilianischen Weihnachtslieds aufblinkten, und musste trotz aller Mühe, es nicht zu tun, unwillkürlich an seine Kinder denken.
Es war der Tag vor Heiligabend. Nicht alle Erinnerungen waren quälend.
Er bestieg das Flugzeug mit zusammengebissenen Zähnen und durchgedrücktem Rückgrat und schlief fast die ganze Stunde, die der Flug bis Corumba dauerte. Der kleine Flughafen dort war voller Bolivianer, die auf einen Flug nach Santa Cruz warteten. Sie waren mit Kartons und Taschen beladen, die von Weihnachtsgeschenken überquollen.
Vor dem Flughafengebäude war die Luft drückend schwül. Nate trieb einen Taxifahrer in einem alten, ungepflegten Mazda auf, der kein Wort Englisch konnte. Doch nachdem er ihm die Wörter »Hotel Palace« auf seinem Reiseplan gezeigt hatte, ging die Fahrt los. Im Wagen war es heiß und stickig.
Corumba habe neunzigtausend Einwohner, erfuhr er aus einem weiteren der von Joshs Mitarbeiter ausgearbeiteten Merkblätter. Die Stadt liege nahe der bolivianischen Grenze am Fluss Paraguay und schmücke sich schon seit langem mit der Bezeichnung >Hauptstadt des Pantanal<. Der Verkehr auf dem Fluss und der Handel, dem die Stadt ihre Entstehung verdanke, werde wohl auch ihren Weiterbestand sichern.
Corumba machte auf Nate einen angenehmen Eindruck und wirkte in keiner Weise hektisch. Die baumbestandenen breiten Straßen waren gepflastert. Händler saßen im Schatten vor ihrem Ladeneingang und unterhielten sich miteinander, während sie auf Kunden warteten. Halbwüchsige flitzten auf ihren Motorrollern zwischen den Autos umher. Barfüssige Kinder schleckten an Tischen auf den Bürgersteigen ihr Eis.