Während Nate seinen Blick ost- und nordwärts schweifen ließ, sahen die beiden Brasilianer nach Westen, zu den fernen Bergen Boliviens hinüber. Eine Handbewegung Jevys erregte Nates Aufmerksamkeit. Hinter den Bergen war der Himmel deutlich dunkler.
Eine Viertelstunde nach dem Start sah Nate die erste menschliche Ansiedlung, ein Gehöft ganz in der Nähe des Paraguay. Das Wohnhaus war klein und ordentlich, mit dem üblichen Dach aus roten Ziegeln. Weiße Kühe grasten auf einer Weide und gingen am Flussufer zur Tränke. Außer der Wäsche, die an einer Leine in der Nähe des Hauses hing, gab es keinen Hinweis auf die Gegenwart von Menschen - kein Fahrzeug, keine Freileitung, keine Fernsehantenne. Ein kleiner eingefriedeter quadratischer Garten lag ein Stück weit vom Haus entfernt am Ende eines unbefestigten Weges. Als das Flugzeug in eine Wolke hineinflog, entschwand die Farm ihren Blicken. Weitere Wolken folgten. Sie wurden dichter, und Milton ging auf knapp tausend Meter herunter, um sich unter ihnen zu halten. Jevy hatte ihm gesagt, dass Nate sich das Gebiet ansehen wolle und er daher so tief wie möglich bleiben müsse. Die erste Ansiedlung der Guato lag etwa eine Flugstunde von Corumba entfernt.
Als sie einige Minuten lang den Fluss verließen, überflogen sie eine Fazenda. Jevy entfaltete seine Karte, beschrieb mit einem Finger einen Kreis um etwas herum und reichte sie Nate nach hinten. »Fazenda da Prata«, sagte er und zeigte nach unten. Auf der Karte hatten alle Fazendas Namen, ganz so, als wären es große Herrensitze. In Wahrheit wirkte die Fazenda da Prata nicht viel größer als das erste Gehöft, das Nate gesehen hatte. Es gab lediglich mehr Kühe, einige kleine Nebengebäude, und das Wohnhaus war etwas größer. Außerdem sah man einen langen geraden Landstreifen, von dem Nate erst nach einer Weile begriff, dass es sich um eine Start- und Landepiste handelte. Es gab dort keinen Fluss in der Nähe und mit Sicherheit keine Straßen. Man konnte nur auf dem Luftweg dorthin gelangen.
Die ostwärts ziehenden dunklen Wolken im Westen bereiteten Milton immer größere Sorgen. Da die Maschine nach Norden flog, schien ein Zusammentreffen unausweichlich. Jevy drehte sich um und rief Nate zu: »Ihm gefällt der Himmel dort drüben nicht.«
Das konnte Nate gut verstehen, aber er war nicht der Pilot. Da ihm nichts einfiel, was er darauf hätte sagen können, zuckte er die Achseln.
»Wir behalten die Sache ein paar Minuten im Auge«, sagte Jevy. Milton erklärte, es sei das beste, umzukehren. Nate wollte zumindest die Indianersiedlungen sehen. Noch hatte er die schwache Hoffnung nicht aufgegeben, er könne einfach dort hinfliegen, Rachel aufsuchen und vielleicht mit nach Corumba nehmen, wo man sich bei einem Mittagessen in einem netten Restaurant über den Nachlass ihres Vaters unterhalten konnte. Diese schwache Hoffnung schwand rasch.
Mit einem Hubschrauber müsste es vielleicht gehen. Bestimmt konnte Josh als Nachlaßverwalter die Kosten dafür aufbringen. Sobald Jevy die richtige Indianersiedlung und die richtige Stelle für eine Landung fand, würde Nate einen Hubschrauber mieten.
Er gab sich Tagträumen hin.
Wieder überflogen sie eine kleine Fazenda, diesmal nahe am Paraguay. Regentropfen prallten gegen die Scheiben der Kabine, und Milton ging auf sechshundert Meter herunter. Links von ihnen zeigte sich ganz in der Nähe eine majestätische Bergkette, und unter ihnen schlängelte sich der Fluss durch dichte Waldgebiete.
Über die Gipfel des Gebirges raste die Gewitterfront heran. Mit einem Mal war der Himmel viel dunkler als zuvor, und Böen beutelten die Cessna so heftig, dass sie durchsackte, wobei Nate mit dem Kopf ans Kabinendach schlug. Angst packte ihn.
»Wir kehren um«, rief ihm Jevy zu. Nate hätte nichts dagegen gehabt, wenn Jevys Stimme gelassener geklungen hätte. Auf Miltons Gesicht war keine Regung zu erkennen, aber die lässige Flieger-Sonnenbrille war verschwunden, und Schweiß bedeckte seine Stirn. Die Maschine machte einen scharfen Schwenk nach rechts, ostwärts, dann südostwärts. Als die Kehre nach Süden vollzogen war, erwartete sie ein Anblick, der Nates Herz stocken ließ. Auch in Richtung Corumba war der Himmel schwarz.
Damit wollte Milton nichts zu tun haben. Rasch drehte er nach Osten ab und sagte etwas zu Jevy.
»Wir können nicht nach Corumba zurück«, brüllte Jevy nach hinten. »Er will Ausschau nach einer Fazenda halten. Da landen wir und warten, bis die Gewitterfront vorbei ist.« Seine Stimme war schrill und besorgt, der Akzent, mit dem er sprach, deutlicher ausgeprägt als vorher.
Nate nickte, so gut er konnte. Sein Kopf flog von einer Seite auf die andere, vom Schlag ans Kabinendach hatte er Kopfschmerzen. Außerdem spürte er, wie sich sein Magen hob.
Einige Minuten lang sah es so aus, als könne die Cessna das Rennen gewinnen. Na klar, dachte Nate, ein Flugzeug, ganz gleich, ob klein oder groß, kann einem Gewitter auf jeden F all davonfliegen. Er rieb sich den Schädel und verkniff es sich, nach unten zu sehen. Doch jetzt kamen die dunklen Wolken von beiden Seiten.
Was für ein zurückgebliebener, hirnrissiger Pilot war das eigentlich, dass er ohne den geringsten Blick auf das Wetterradar einen Flug antrat? Andererseits war das Radar, immer vorausgesetzt, die Leute hatten überhaupt eins, wahrscheinlich zwanzig Jahre alt und bereits wegen der Feiertage abgeschaltet.
Die Winde umtosten das Kleinflugzeug, und der Regen hämmerte gegen Scheiben und Rumpf. Dichte Wolken zogen vorüber. Die Gewitterfront holte sie ein, überholte sie, und die Maschine wurde von einer Seite zur anderen geschleudert, tanzte auf und ab. Volle zwei Minuten lang gehorchte sie wegen der Turbulenzen dem Steuer nicht. Es war eher ein Ritt auf einem Mustang als ein Flug durch die Wolken.
Bei einem Blick aus dem Fenster merkte Nate, dass nichts zu sehen war: weder Wasser noch Sumpf, und erst recht keine freundliche kleine Fazenda mit einer Landebahn. Er ließ sich noch tiefer in seinen Sitz sinken. Mit zusammengebissenen Zähnen nahm er sich vor, sich auf keinen Fall zu übergeben.
Als die Maschine in einem Luftloch in weniger als zwei Sekunden dreißig Meter durchsackte, stießen alle drei Männer Verwünschungen aus. Die Angst in der Kabine war geradezu mit Händen zu greifen.
Dann trat eine sehr kurze Pause ein, in der die Luft stillzustehen schien. Milton schob den Steuerknüppel nach vorn und zog die Maschine steil nach unten. Nate hielt sich mit beiden Händen an der Rückenlehne vor ihm fest und kam sich zum ersten und hoffentlich einzigen Mal in seinem Leben wie ein Kamikazeflieger vor. Sein Herz raste, sein Magen schien ihm in der Kehle zusitzen. Er schloss die Augen und dachte an Sergio und an den Yogalehrer von Walnut Hill, der ihm Beten und Meditieren beigebracht hatte. Er versuchte beides, aber das erwies sich für jemanden, der in einem zu Boden stürzenden Flugzeug gefangen saß, als unmöglich. Der Tod war nur noch Sekunden entfernt.
Ein Donnerschlag unmittelbar über der Cessna betäubte und erschütterte sie bis ins Mark. Es war, als hätte man in einem dunklen Zimmer ein Gewehr abgefeuert. Nate hatte den Eindruck, seine Trommelfelle wären geplatzt.
In hundertfünfzig Metern Höhe fing Milton die Maschine ab. Der Sturzflug war zu Ende, die Böen aber nicht. »Halten Sie Ausschau nach einer Fazenda\« schrie Jevy vom Vordersitz, und Nate sah zögernd hinaus. Regen und Sturm hämmerten auf den Boden unter ihnen. Die Bäume schwankten, und auf den Wasserflächen tanzten Schaumkronen. Jevy suchte auf der Karte herum, aber sie hatten nicht die geringste Vorstellung davon, wo sie sich befanden.