Der weiß wie Gischt herabströmende Regen verminderte die Sicht auf hundert, vielleicht zweihundert Meter. Mitunter konnte Nate den Boden kaum erkennen. Wahre Sturzbäche von Regen umgaben sie, die der orkanartige Wind seitwärts trieb. Wie ein Kinderdrachen tanzte das Flugzeug durch die Luft. Milton bemühte sich mit allen Kräften, die Herrschaft über die Maschine zu behalten, während Jevy verzweifelt in alle Richtungen spähte. Sie waren nicht bereit, kampflos unterzugehen.
Aber Nate gab auf. Wie wollte jemand sicher landen, der nicht einmal den Boden sehen konnte? Das Gewitter hatte seinen Höhepunkt noch vor sich. Alles war aus.
Er dachte nicht daran, mit Gott zu feilschen. Das Schicksal, das ihn erwartete, hatte er mit seinem Lebenswandel verdient. Hunderte von Menschen kommen jedes Jahr bei Flugzeugabstürzen um; er war nicht besser als andere. Unmittelbar unter ihnen sah er ein Stück Fluss, und mit einem Mal fielen ihm die Kaimane und Anakondas ein.
Die Vorstellung einer Notlandung im Sumpf erfüllte ihn mit Entsetzen. Er sah sich schon schwer verletzt ums Überleben kämpfen, stellte sich vor, wie er versuchte, das verdammte Satellitentelefon in Gang zu setzen, während er gleichzeitig hungrige Reptilien abwehrte.
Ein erneuter Donnerschlag erschütterte die Kabine. Nate beschloss, jetzt doch zu kämpfen. Er spähte im vergeblichen Bemühen unter sich, eine Fazenda zu entdecken. Ein Blitz blendete sie einen Augenblick lang. Der Motor geriet ins Stottern und wäre fast stehen geblieben, fing sich dann und lief weiter. Milton ging auf hundertzwanzig Meter herunter. Unter normalen Umständen war das im Pantanal eine sichere Flughöhe. Zumindest brauchte man sich dort keine Sorgen wegen Hügeln oder anderen Bodenerhebungen zu machen.
Nate zerrte seinen Schultergurt noch fester und übergab sich dann zwischen die Beine. Es war ihm nicht im geringsten peinlich. Er spürte nichts als nacktes Entsetzen.
Die Dunkelheit verschlang sie. Milton und Jevy wurden so durchgeschüttelt, dass sie mit den Schultern aneinander stießen. Immer wieder gaben sie brüllende Laute von sich, während sie sich bemühten, die Herrschaft über das Flugzeug nicht zu verlieren. Die Karte hing Jevy zwischen den Beinen, sie war mittlerweile völlig nutzlos.
Die Gewitterfront schob sich jetzt auch unter sie. Milton ging auf sechzig Meter herunter, so dass man hin und wieder einen Blick auf den Boden erhaschen konnte. Eine Bö schleuderte die Cessna buchstäblich beiseite, und Nate begriff, wie hilflos sie waren. Er sah etwas Weißes unter sich, schrie und zeigte hin. »Eine Kuh, eine Kuh!« Jevy brüllte Milton das portugiesische Wort ins Ohr.
In so dichtem Regen, dass er ihnen jegliche Sicht nahm, gingen sie durch die Wolken auf fünfundzwanzig Meter herunter und flogen unmittelbar über das rote Dach eines Hauses. Erneut schrie Jevy etwas und wies nach rechts. Die Landebahn kam Nate nicht länger vor als eine Garagenauffahrt in einer Vorstadtsiedlung. Vermutlich war eine Landung dort sogar bei gutem Wetter ein gefährliches Unterfangen. Aber ihnen blieb keine Wahl. Im Fall einer Bruchlandung waren zumindest Menschen in der Nähe.
Für eine Landung mit dem Wind war es zu spät, und so wendete Milton mit größter Anstrengung, um gegen den Wind heruntergehen zu können. Die Böen schleuderten sie hierhin und dorthin, und es kam Nate vor, als stehe die Cessna über dem Boden still. Wegen des dichten Regens betrug die Sicht inzwischen fast null. Nate beugte sich vor, um die Landebahn sehen zu können, erkannte aber lediglich Wasserströme auf der Windschutzscheibe. In fünfzehn Meter Höhe wurde die Cessna zur Seite geschleudert. Milton fing sie ab und brachte sie wieder in die richtige Lage. Jevy brüllte: »Vacas! Vacas!« Nate begriff sofort, dass er damit Kühe meinte. Er sah sie ebenfalls. Es gelang ihnen, der ersten aus-zuweichen.
In dem sich wirr abspulenden Film, den Nate wahrnahm, bevor die Maschine aufschlug, sah er einen Jungen mit einem Stock, der angstvoll und klatschnass durch das hohe Gras wankte, und eine Kuh, die davonlief. Er sah, wie sich Jevy in seinem Sitz feststemmte, während er mit wildem Blick nach vorn starrte. Sein Mund war weit geöffnet, aber kein Laut kam heraus.
Sie setzten auf dem Gras auf, rollten aber weiter. Es war eine sehr harte Landung, aber kein Absturz, und in diesem Sekundenbruchteil hoffte Nate, dass sie nicht sterben würden. Eine weitere Bö hob sie einige Meter hoch, dann setzte die Maschine erneut auf.
»Vaca! Vaca!«
Der Propeller erfasste eine große Kuh, die neugierig stehen geblieben war. Die Maschine wurde herumgerissen, alle Scheiben fielen heraus, alle drei Männer schrien ihre letzten Worte.
Als Nate zu sich kam, merkte er, dass er blutüberströmt war. Er lag auf der Seite, hatte entsetzliche Angst, aber er lebte. Mit einem Mal fiel ihm auf, dass es immer noch regnete. Der Wind heulte durch das Flugzeug. Milton und Jevy lagen mit wirr ineinander verschlungenen Gliedmaßen aufeinander, bewegten sich aber ebenfalls und versuchten sich aus den Gurten zu befreien.
Nate steckte den Kopf zum Fenster hinaus. Das Flugzeug lag seitwärts auf einer abgeknickten Tragfläche. Alles war mit Blut bedeckt, das aber stammte von der Kuh und nicht von den Menschen in der Kabine. Der Regen, der immer noch in dichten Strömen herunterkam, wusch es rasch ab.
Der Junge mit dem Stock führte sie zu einem kleinen Stallgebäude nahe der Landebahn. In Sicherheit vor dem Gewitter ließ sich Milton auf die Knie nieder und murmelte ein aufrichtiges Gebet zur Jungfrau Maria vor sich hin. Nate sah ihm zu und betete sozusagen mit ihm.
Niemand war ernsthaft verletzt. Milton hatte eine leichte Schnittwunde auf der Stirn. Jevys rechtes Handgelenk war geschwollen. Später würden ihnen wahrscheinlich alle Knochen im Leibe weh tun.
Sie saßen lange auf dem nackten Boden, sahen in den Regen hinaus, hörten den Wind, dachten an das, was hätte geschehen können, und schwiegen.
DREIZEHN
Der Besitzer der Kuh tauchte etwa eine Stunde später auf, als das Unwetter allmählich nachließ und es eine Weile nicht regnete. Er war barfuss, trug ausgebleichte Shorts aus Jeansstoff und ein fadenscheiniges T-Shirt mit der Aufschrift Chicago Bulls. Er hieß Marco und war nicht vom weihnachtlichen Geist erfüllt.
Er schickte den Jungen weg und begann dann mit Jevy und Milton heftig über den Wert des getöteten Tiers zu streiten. Milton machte sich mehr Sorgen um sein Flugzeug und Jevy um sein geschwollenes Handgelenk. Nate stand am Fenster und fragte sich, wieso er eigentlich, voll blauer Flecken und mit dem Blut einer Kuh bedeckt, am Heiligabend mitten in der brasilianischen Wildnis herumstand und sich anhörte, wie drei Männer in einer fremden Sprache wild aufeinander einredeten. Auf diese Frage gab es keine eindeutige Antwort. Dabei konnte er noch von Glück sagen, dass er am Leben war.
Nach den anderen Kühen zu urteilen, die in der Nähe weideten, konnte das Tier nicht viel wert gewesen sein.
»Ich zahl für das verdammte Ding«, sagte Nate zu Jevy.
Jevy fragte den Mann, wie viel er haben wolle, und dieser sagte: »Hundert Reais.« Also hundert Dollar. Diesen Betrag war es Nate allein schon wert, dass Marco mit Lamentieren aufhörte.
»Ich zahl es. Nimmt er auch American Express?« fragte er, aber der Witz fand keine Resonanz.
Die Abmachung wurde besiegelt, und der Mann verwandelte sich in ihren Gastgeber. Er führte sie in sein Haus, wo eine kleine barfüssige Frau, die sie lächelnd und wortreich willkommen hieß, gerade das Mittagessen zubereitete. Aus naheliegenden Gründen waren im Pantanal Gäste etwas Unbekanntes, und als die Leute begriffen, dass Nate aus den Vereinigten Staaten kam, riefen sie die Kinder herbei. Der Junge mit dem Stock hatte zwei Brüder, und seine Mutter forderte alle drei auf, sich Nate gut anzusehen, weil er Amerikaner war.