Auch der letzte Zweifel, ob seine Teilnahme an der Mahlzeit schicklich sei, verpuffte, als er das Haus betrat. Der verlockende Geruch nach Lammeintopf hing in der Luft. Der Pfarrer schürte die orangefarben glühenden Kohlen im Kamin, während seine Frau die Mahlzeit auf den Tisch brachte.
Im schmalen Esszimmer zwischen Küche und Wohnzimmer war ein Tisch für vier Personen gedeckt. Nate war froh, die Einladung angenommen zu haben; allerdings hätte er auch gar keine Möglichkeit gehabt, sie abzulehnen.
»Wir sind wirklich froh, dass Sie hier sind«, sagte der Pfarrer, während sie sich setzten. »Ich hatte so ein Gefühl, dass wir heute einen Gast haben würden.«
»Wessen Platz ist das?« fragte Nate und wies mit dem Kopf zu dem leeren Gedeck hinüber.
»Wir decken sonntags immer für vier«, sagte die Frau ohne weitere Erklärung. Sie hielten einander bei den Händen, während der Pfarrer erneut Gott für den Schnee, die Jahreszeiten und das Essen dankte. Er schloss mit den Worten: »Und lass uns immer an die Bedürfnisse und Nöte der anderen denken.« Das weckte in Nate eine Erinnerung. Er hatte diese Worte schon einmal gehört, vor vielen, vielen Jahren.
Während die Schüssel von einem zum anderen ging, unterhielten sich Phil und Laura, wie vermutlich immer, über die Ereignisse des Vormittags. Den Elf-Uhr-Gottesdienst besuchten durchschnittlich vierzig Personen. Tatsächlich hatte der Schnee einige gehindert zu kommen, außerdem ging auf der Halbinsel die Grippe um. Nate beglückwünschte die beiden zur schlichten Schönheit ihrer Kirche. Sie waren seit sechs Jahren in St. Michaels. Schon bald sagte Laura: »Wenn man bedenkt, dass Januar ist, sind Sie erstaunlich braun. Das stammt doch bestimmt nicht aus Washington?«
»Nein. Ich komme gerade aus Brasilien zurück.« Die beiden hörten auf zu essen und beugten sich aufmerksam vor. Das Abenteuer begann erneut. Nate nahm einen großen Löffel Eintopf, der wirklich köstlich war, und fing an zu erzählen.
» Bitte, essen Sie doch «, forderte ihn Laura von Zeit zu Zeit auf. Nate nahm einen Bissen, kaute langsam und fuhr dann fort. Er sprach von Rachel lediglich als »Tochter eines Mandanten«. Die Unwetter wurden wilder, die Schlangen länger, das Boot kleiner, die Indianer weniger freundlich. Phils Augen tanzten vor Erstaunen, während Nate Kapitel um Kapitel erzählte.
Zum zweiten Mal seit seiner Rückkehr berichtete er seine Geschichte. Von kleinen Übertreibungen hier und da abgesehen, blieb er bei der Wahrheit. Selbst ihn erstaunte die Geschichte. Sie war in der Tat bemerkenswert, und seine Gastgeber kamen in den Genuss einer langen, ausgeschmückten Ve rsion, die sie mit Fragen unterbrachen, wo sie nur konnten.
Als Laura die Teller abgeräumt und zum Nachtisch kleine braune Kuchen aufgetragen hatte, waren Nate und Jevy gerade an der Ipica-Ansiedlung angekommen.
»War sie überrascht, Sie zu sehen?« fragte Phil, als Nate beschrieb, wie die Indianer ihm und Jevy die Frau aus dem Dorf entgegenführten.
»Eigentlich nicht«, sagte Nate. »Sie schien zu wissen, dass wir kommen würden.«
Nate gab sich größte Mühe, die Indianer und ihre Steinzeitkultur zu beschreiben, doch Worte waren der Wirklichkeit nicht gewachsen. Er aß zwei braune Kuchen, von denen er während kurzer Pausen in seinem Bericht jeweils große Stücke abbiss.
Anschließend gab es Kaffee. Am sonntäglichen Mittagstisch ging es bei Phil und Laura eher um Unterhaltung als um Nahrungsaufnahme. Nate fragte sich, wer als letzter das Glück gehabt haben mochte, zu Geschichten und Essen eingeladen zu werden.
Die Schrecken des Denguefiebers herunterzuspielen war schwierig, aber Nate bemühte sich mannhaft. Einige Tage im Krankenhaus, etwas Medizin, und er war wieder auf den Beinen. Als er fertig war, kamen die Fragen.
Phil wollte alles über die Missionarin wissen - welcher Kirche sie angehörte, Einzelheiten über ihren Glauben sowie über ihre Arbeit bei den Indianern. Lauras Schwester hatte fünfzehn Jahre in einem kirchlichen Krankenhaus in China gearbeitet; das bot Stoff für weitere Geschichten.
Es war fast drei Uhr, als Nate das Haus verließ. Seine Gastgeber hätten nur allzu gern weiter mit ihm am Esstisch oder im Wohnzimmer gesessen und wohl am liebsten bis zum Einbruch der Dunkelheit weiter geredet, aber Nate brauchte unbedingt etwas Bewegung. Er dankte ihnen für ihre Gastfreundschaft, und als er ihnen zum Abschied von der Veranda zuwinkte, hatte er den Eindruck, diese Menschen schon seit Jahren zu kennen.
Er brauchte eine Stunde, um den Ort zu durchwandern. Hundert Jahre alte Häuser säumten die schmalen Straßen. Alles war, wie es sich gehörte, kein Hund lief frei herum, es gab keine ungepflegten Grundstücke oder verlassenen Gebäude. Selbst den Schnee hatte man ordentlich und voll Sorgfalt beiseite geschaufelt, damit Straßen und Bürgersteige frei waren und kein Nachbar sich gekränkt fühlen musste. Nate blieb am Anleger stehen und bewunderte die Segelboote. Er hatte noch nie einen Fuß auf eines gesetzt.
Er beschloss, St. Michaels nur zu verlassen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Er würde in Joshs Häuschen wohnen und dort bleiben, bis ihn der Eigentümer höflich auf die Straße setzte. Er würde sein Geld sparen, und wenn der Fall Phelan vorüber war, würde er irgendeine Möglichkeit finden, sich weiter durchs Leben zu schla-gen.
In der Nähe des Hafens stieß er auf einen kleinen Lebensmittelladen, der gerade schließen wollte. Er kaufte Kaffee, Dosensuppen, Salzgebäck und Hafergrütze für das Frühstück. Nahe der Theke stand eine ganze Anzahl von Bierdosen. Er lächelte sie an, froh, dass diese Zeiten hinter ihm lagen.
VIERZIG
Grit bekam sein Mandat per Fax und E-Mail entzogen, was in seiner Kanzlei bisher noch nie vorgekommen war. Absenderin war Mary ROSS, die ihn am frühen Montag morgen nach einem Wochenende mit ihren Brüdern, bei dem es hoch hergegangen war, von ihrer Entscheidung in Kenntnis setzte.
Der Anwalt dachte nicht daran, so ohne weiteres von der Bildfläche zu verschwinden. Er faxte Mary ROSS umgehend eine Rechnung für seine bisherigen Bemühungen zu: rund hundert-fünfzig Stunden zu je sechshundert Dollar, also insgesamt fast neunzigtausend Dollar. Verglichen mit dem Betrag, auf den er bei einer außergerichtlichen Einigung oder einem anderen günstigen Ergebnis Anspruch gehabt hätte, war das mehr als dürftig. Was sollte er mit sechshundert Dollar die Stunde? Er wollte ein ordentlichen Stück vom Kuchen, einen Anteil von dem, was er für seine Mandantin herauszuholen gedachte, nämlich die fünfundzwanzig Prozent, auf die er sich mit ihr geeinigt hatte. Grit hatte mit Millionen gerechnet und starrte jetzt in seinem verschlossenen Büro fassungslos das Fax an. Es war doch nicht möglich, dass ihm da ein Vermögen durch die Finger geglitten war! Er war fest überzeugt, dass die Verwalter von Phelans Nachlass nach einigen Monaten eines mit harten Bandagen geführten Kampfes um das Erbe einer einvernehmlichen Lösung zugestimmt hätten. Selbst, wenn man jedem der sechs Nachkommen nur zwanzig Millionen zubilligte, auf die sich diese wie verhungerte Straßenköter stürzen würden, bliebe das Phelan-Vermögen nach wie vor so gut wie unangetastet. Zwanzig Millionen für seine Mandantin wären fünf Millionen für ihn, und allein in seinem Büro musste Grit zugeben, dass er bereits überlegt hatte, wie er sie verbraten wollte.
Er rief Hark Gettys Kanzlei an, um ihn zu beschimpfen, erfuhr aber, dass Mr. Gettys im Augenblick unabkömmlich sei.
Mittlerweile vertrat Mr. Gettys drei der vier Kinder aus Troy Phelans erster Ehe. Sein prozentualer Anteil war von fünfundzwanzig über zwanzig auf siebzehneinhalb Prozent zurückgegangen; aber die Hebelwirkung war enorm.
Er betrat kurz nach zehn den Besprechungsraum seiner Kanzlei, begrüßte die verbliebenen Anwälte der Phelan-Nachkommen, die dort zu einer wichtigen Sitzung zusammengekommen waren, und sagte munter: »Ich habe Ihnen mitzuteilen, dass sich Mr. Grit nicht mehr mit dem Fall beschäftigt. Mary ROSS Phelan Jackson, seine ehemalige Mandantin, hat mich mit der Vertretung ihrer Interessen betraut, und ich habe mich nach längerem Überlegen dazu bereit erklärt.«