Sie redeten so lange miteinander, dass der Vormittag nahtlos in die Essenszeit überging. Als es soweit war, gingen sie nach nebenan und taten sich erneut am Lammeintopf gütlich. Laura stieß erst später dazu. Sie arbeitete in der Vorschule und hatte nur eine halbe Stunde Mittagspause.
Gegen zwei Uhr kehrten sie in den Keller zurück und nahmen zögernd ihre Arbeit wieder auf. Während Nate dem Pfarrer zusah, kam er zu der Überzeugung, dass das Projekt zu dessen Lebzeiten nicht fertig würde. Joseph mochte ein guter Zimmermann gewesen sein, aber Phil gehörte auf die Kanzel. Jede einzelne Öffnung musste gemessen, nachgemessen, lange und gründlich bedacht, aus verschiedenen Winkeln prüfend betrachtet und dann erneut gemessen werden. Die Spanplatte, die dazu bestimmt war, sie zu füllen, wurde auf die gleiche Weise behandelt. Nachdem Phil dann so viele Bleistiftmarkierungen angebracht hatte, dass kein Architekt aus ihnen schlau geworden wäre, nahm er mit größter Zurückhaltung die Elektrosäge und schnitt die Platte zu. Dann trugen sie sie gemeinsam an die vorgesehene Stelle, sicherten sie mit einigen Hammerschlägen und nagelten sie dann endgültig fest. Jedesmal passte die Platte auf den Millimeter genau, und jedesmal wirkte Phil richtig erleichtert. Zwei Gruppenräume schienen soweit fertig zu sein, dass die Wände nur noch gestrichen zu werden brauchten.
Am Spätnachmittag kam Nate zu dem Ergebnis, dass er am nächsten Tag Maler sein würde.
EINUNDVIERZIG
Zwei Tage angenehmer Beschäftigung brachten die Arbeit im kalten Keller der Dreifaltigkeitskirche nicht wirklich weiter, wohl aber wurde viel Kaffee getrunken. Der Lammeintopf wurde schließlich ganz aufgegessen, einige weitere Spanplatten wurden als Wandverkleidung angebracht und gestrichen, und eine Freundschaft entstand.
Als sich Nate am Dienstag Abend Farbe unter den Fingernägeln hervorkratzte, klingelte das Telefon. Josh war am Apparat und rief ihn in die Wirklichkeit zurück. »Richter Wycliff möchte dich morgen sehen«, sagte er. »Ich hab dich schon früher zu erreichen versucht.«
»Was will er?« fragte Nate mit vor Furcht tonloser Stimme.
»Vermutlich hat er Fragen über deine neue Mandantin.«
»Ich hab wirklich viel zu tun, Josh. Ich bin mit einem Umbau beschäftigt, anstreichen, Wandplatten und so weiter.«
»Tatsächlich?«
»Ja, ich arbeite am Umbau eines Kirchenkellers mit, und das muss zügig vorangehen.«
»Ich habe gar nicht gewusst, dass du ein Händchen für solche Dinge hast.«
»Muss ich wirklich kommen, Josh?«
»Ich glaube schon, mein Freund. Du hast dich bereit erklärt, den Fall Rachel Lane zu übernehmen. Das hab ich dem Richter auch schon gesagt. Du wirst gebraucht, alter Junge.«
»Wann und wo?«
»Komm morgen in mein Büro. Wir fahren dann gemeinsam rüber.«
»Ich möchte nicht in die Kanzlei, Josh. Das sind lauter unangenehme Erinnerungen. Können wir uns nicht im Gericht treffen?«
»Von mir aus. Sei um zwölf Uhr im Zimmer von Richter Wycliff.«
Nate legte ein weiteres Scheit in den Kamin und sah dem Schneetreiben vor der Veranda zu. Er wusste, wie man in Anzug und Krawatte mit einem Aktenkoffer auftritt, konnte sich verhalten und reden wie ein Anwalt, sagen, »Euer Ehren« und »Ich bitte das Gericht, zu berücksichtigen«, und er konnte Einsprüche in den Saal rufen und Zeugen in die Mangel nehmen. Er war zu allem imstande, was eine Million anderer taten, aber als Anwalt betrachtete er sich nicht mehr. Diese Zeiten waren Gott sei Dank vorbei.
Ein weiteres Mal würde er es tun, aber nur dies eine Mal. Er versuchte sich einzureden, dass er es für seine Mandantin Rachel tue, wusste aber, dass ihr das völlig gleichgültig war.
Er hatte ihr immer noch nicht geschrieben, obwohl er es sich oft vorgenommen hatte. Schon der Brief an Jevy hatte ihn zwei Stunden harte Arbeit gekostet, bei der nur anderthalb Seiten herausgekommen waren.
Nach drei Schneetagen fehlten ihm die feuchtheißen Straßen von Corumba mit dem gemächlichen Fußgängerverkehr, den Straßencafes und dem Lebensrhythmus, dessen unüber-hörbare Botschaft war: Es gibt nichts, das nicht bis morgen warten kann. Es schneite von Minute zu Minute heftiger. Vielleicht gibt es wieder einen Schneesturm, dachte er, dann werden die Straßen gesperrt, und ich brauche doch nicht hinzufahren.
Wieder einmal Sandwiches aus der griechischen Imbissstube, wieder Gewürzgürkchen und Tee. Josh richtete den Tisch her, während er und Nate auf Richter Wycliff warteten. »Hier ist die Gerichtsakte«, sagte er und gab Nate einen umfangreichen roten Ordner. »Und hier ist deine Antwort«, sagte er und gab ihm einen braunen Aktendeckel. »Du musst das so schnell wie möglich durchlesen und unterzeichnen.«
»Hat die Nachlass Verwaltung bereits darauf reagiert?« fragte Nate.
»Unsere Stellungnahme kommt morgen. Da drin liegt die von Rachel Lane, fix und fertig. Du musst sie nur noch unterschreiben.«
»Hier stimmt was nicht, Josh. Ich reiche eine Stellungnahme zu einer Testamentsanfechtung im Namen einer Mandantin ein, die nichts davon weiß.«
»Dann schick ihr eine Kopie.«
»Und wohin?«
»An ihre einzige bekannte Anschrift, die von World Tribes Missions in Houston, Texas. Steht alles in der Akte.« Kopfschüttelnd nahm Nate zur Kenntnis, dass Josh bereits alles Erforderliche vorbereitet hatte. Er kam sich vor wie ein Bauer auf einem Schachbrett. In ihrer vierseitigen Stellungnahme bestritt die Erbin Rachel Lane alle von den sechs Antragstellern, die das Testament anfochten, gemachten Behauptungen im allgemeinen und im besonderen, Stück für Stück. Nate las die sechs Anfechtungsanträge, während sich Josh mit seinem Mobiltelefon beschäftigte.
Letztlich liefen alle Anwürfe und juristisch verklausulierten Formulierungen auf die eine Frage hinaus: Hatte Troy Phelan gewusst, was er tat, als er sein letztes Testament verfaßte ? Das Verfahren würde der reinste Zirkus werden, denn bestimmt würden die Anwälte Psychiater aller Schulen und Schattierungen aufbieten, aber auch Angestellte vor Gericht auftreten lassen, frühere Mitarbeiter, einstige Freundinnen, Hausmeister, Zimmermädchen, Chauffeure, Piloten, Leibwächter, Ärzte und Prostituierte - kurz, jeden, der irgendwann einmal fünf Minuten mit dem Alten zugebracht hatte.
Nate war das alles zuviel. Die Akte belastete ihn immer mehr, je weiter er las. Am Ende der Auseinandersetzung würde der Aktenberg bestimmt ein ganzes Zimmer anfüllen.
Richter Wycliff kam um eins, wie immer in großer Eile. Während er sich die Robe herunterzerrte, entschuldigte er sich für die Verspätung. »Sie sind Nate O'Riley«, sagte er und hielt ihm die Hand hin.
»Ja, ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Josh löste sich endlich von seinem Mobiltelefon. Sie drängten sich um den kleinen Tisch und begannen zu essen. »Josh hat mir gesagt, dass Sie die reichste Frau der Welt aufgestöbert haben«, sagte Wycliff mit vollem Mund. »Stimmt. Vor etwa zwei Wochen.«
»Und Sie können mir nicht sagen, wo sie sich aufhält?«
»Sie hat mich gebeten, das nicht zu tun. Ich hab's ihr versprochen.«
»Wird sie zum gegebenen Zeitpunkt hier auftreten und Aussagen?«
»Das wird nicht nötig sein«, erklärte Josh. Natürlich befand sich in seiner Handakte eine von der Kanzlei Stafford vorbereitete Aktennotiz über die Notwendigkeit ihres Erscheinens im Laufe des Verfahrens. »Wenn sie nichts über Mr. Phelans Geisteszustand weiß, kann sie als Zeugin nichts zur Klärung der Sachlage beitragen.« »Aber sie ist eine der Parteien«, sagte Wycliff.
»Das ist richtig. Aber man kann sie von der Anwesenheitspflicht entbinden. Wir können die Auseinandersetzung auch ohne sie führen.«
»Und wer soll sie von der Anwesenheitspflicht entbinden?«
»Sie, Euer Ehren.«
»Ich beabsichtige, zum gegebenen Zeitpunkt einen Antrag zu stellen«, sagte Nate, »mit dem ich das Gericht bitte zu gestatten, dass das Verfahren in ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann.« Josh lächelte über den Tisch. Gut gemacht, Nate.