Am zweiten Tag entließ er seinen Zeugen um halb sechs. Der nächste war Rex. Er hatte schon den ganzen Tag auf dem Gang gewartet und war höchst aufgebracht, als er hörte, dass er wieder vergeblich gekommen war.
Josh war aus New York zurück, und Nate aß gemeinsam mit ihm zu Abend.
FÜNFUNDVIERZIG
R ex Phelan hatte den größten Teil des Vortags vom Gang aus telefoniert, während sich Nate O'Riley seinen Bruder vornahm. Er hatte genug Prozesse hinter sich, um zu wissen, dass sie vor allem die Fähigkeit zu warten voraußetzen: Man musste auf Anwälte warten, auf Richter, auf Zeugen, auf Gutachter, auf Prozesstermine für Berufungsinstanzen. Wenn es dann endlich soweit ist, wartet man auf dem Gang, bis man an der Reihe ist, selbst auszusagen. Als er die Rechte hob und schwor, die Wahrheit zu sagen, empfand er Nate gegenüber bereits eine tiefe Abneigung.
Hark und Troy Junior hatten ihm klargemacht, was ihm bevorstand. Der Anwalt O'Riley, hatten sie gesagt, gehe einem unter die Haut und setze sich da fest wie eine Eiterbeule.
Wieder begann Nate mit Fragen, die sein Opfer zur Weißglut bringen sollten, und binnen zehn Minuten erfüllte eine feindselige Atmosphäre den Raum. Drei Jahre lang hatte das FBI Rex im Visier gehabt. Eine Bank, in die Rex investiert hatte und in deren Vorstand er saß, hatte 1990 Bankrott angemeldet. Dabei hatten Anleger ihr Geld verloren. Prozesse zogen sich über Jahre hin, ohne dass ein Ende in Sicht war. Der Vorstandssprecher der Bank saß im Gefängnis, und Fachleute waren der Ansicht, als nächster sei Rex an der Reihe. Es gab genug schmutzige Wäsche, um Nate stundenlang zu beschäftigen.
Es schien ihm Spaß zu machen, Rex immer wieder daran zu erinnern, dass er unter Eid stehe. Außerdem ständen die Chancen nicht schlecht, dass das FBI Einblick in das Protokoll dieser Befragung nehmen werde.
Der Nachmittag war schon ziemlich weit fortgeschritten, als Nate endlich zu den Striptease-Clubs kam, von denen Rex im Gebiet von Fort Lauderdale sechs besaß, auch wenn sie auf den Namen seiner Frau eingetragen waren. Er hatte sie von einem Mann gekauft, der später bei einem Schusswechsel getötet worden war. Sie waren als Thema der Befragung einfach unwiderstehlich, und Nate ging sie eins nach dem anderen durch und stellte hundert Fragen dazu: Lady Luck, Lolita's, Club Tiffany und wie sie alle hießen. Er fragte nach den dort tätigen Damen, wollte wissen, woher sie stammten, wie viel sie verdienten, ob sie Drogen nahmen und, falls ja, welche, ob sie die Gäste berührten und vieles weitere. Er stellte eine Frage nach der anderen über die wirtschaftlichen Hintergründe dieser Art von Betrieb. Nachdem er drei Stunden lang mit größter Sorgfalt ein Bild des schmuddeligsten Geschäfts auf der Welt gezeichnet hatte, fragte er: »Hat Ihre gegenwärtige Frau nicht in einem solchen Club gearbeitet?«
Zwar entsprach das den Tatsachen, doch konnte Rex das nicht so ohne weiteres sagen. Sein Hals verfärbte sich leuchtend rot, und einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er über den Tisch springen.
»Als Buchhalterin«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.
»Hat sie je getanzt, ich meine, auf den Tischen?«
Wieder trat eine Pause ein, während Rex mit den Fingern die Tischkante umkrallte. »Ganz bestimmt nicht.« Es war eine Lüge, und jeder im Raum wusste das.
Nate blätterte einige Papiere durch, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Alle sahen aufmerksam zu und rechneten mehr oder weniger damit, dass er ein Foto herausziehen würde, das Amber mit hochhackigen Schuhen und in einem String-Tanga zeigte.
Wieder einmal wurde die Befragung um sechs Uhr vertagt, mit der Aussicht, dass es am nächsten Morgen weiterging. Als die Videokamera abgeschaltet war und die Protokollbeamtin ihre Stenomaschine wegräumte, blieb Rex in der Tür stehen, wies mit dem Finger auf Nate und sagte: »Keine weiteren Fragen über meine Frau, verstanden?«
»Das ist unmöglich. Alle Vermögenswerte sind auf ihren Namen eingetragen.« Nate wedelte mit einem Stapel Papiere, als hätte er das alles schriftlich. Hark schob seinen Mandanten durch die Tür.
Während Nate eine Stunde lang allein am Tisch saß und seine Notizen durchging, wünschte er sich, er säße in St. Michaels auf der Veranda des Häuschens mit dem herrlichen Blick auf die Bucht. Er musste unbedingt mit Phil sprechen.
Das ist dein letzter Fall, sagte er sich immer wieder. Und du tust es für Rachel.
Am folgenden Tag fragten sich die Anwälte gegen Mittag, ob die Befragung Rex' drei oder vier Tage dauern würde. Gegen ihn lagen vollstreckbare Forderungen in Höhe von mehr als sieben Millionen Dollar vor, doch
waren den Gläubigern die Hände gebunden, weil all seine Vermögenswerte auf seine Frau Amber eingetragen waren, die ehemalige Stripperin. Nate nahm eins der Vollstreckungsurteile nach dem anderen zur Hand, legte sie vor sich, betrachtete sie aus jedem denkbaren Blickwinkel und legte sie dann in die Akte zurück, wo sie bleiben würden, oder auch nicht. Die Zähigkeit, mit der die Befragung voranging, machte jeden verrückt, außer Nate, der es irgendwie schaffte, seiner Aufgabe mit ernster Miene nachzugehen.
Im Lauf der Nachmittagssitzung kam er auf Troys Sprung und die Ereignisse zu sprechen, die dazu geführt hatten. Dabei verfolgte er die gleiche Taktik wie bei der Befragung Juniors, und es war deutlich zu sehen, dass Rex von Hark vorbereitet worden war. Seine Antworten auf die Fragen, die Nate zu Dr. Zadel stellte, waren einstudiert, aber zutreffend. Rex hielt sich an die einmal eingeschlagene Richtung - es sei klar, dass alle drei Psychiater unrecht haben mussten, denn wenige Minuten nach der Befragung sei Troy in den Tod gesprungen.
Sie gelangten auf vertrauteres Gebiet, als Nate ihn nach seiner unglückseligen beruflichen Laufbahn in der Phe-lan-Gruppe befragte. Anschließend verbrachten sie zwei qualvolle Stunden mit Fragen darüber, wohin die fünf Millionen verschwunden waren, die Rex als väterliche Starthilfe ins Leben erhalten hatte.
Um halb sechs erklärte Nate unvermittelt, er sei fertig, und verließ den Raum.
Zwei Zeugen in vier Tagen. Zwei Männer, deren Innerstes nach außen gekehrt und auf Videobändern bloßgelegt worden war. Es war kein erhebender Anblick. Die Phelan-Anwälte strebten ihren Autos entgegen und fuhren davon. Möglicherweise lag das Schlimmste hinter ihnen, vielleicht aber stand es ihnen auch noch bevor.
Ihre Mandanten waren in der Kindheit maßlos verzogen und von ihrem Vater nicht beachtet worden. Später hatte er ihnen in einem Alter, in dem sie mit Geld noch nicht umgehen konnten, einen gewaltigen Betrag zur Verfügung gestellt und erwartet, dass sie damit reüssierten. Die Schuld daran, dass sie nichts daraus zu machen verstanden, trug nach einhelliger Ansicht aller Phelan-Anwälte Troy.
Libbigail wurde am Freitag morgen hereingeführt und auf den Ehrenplatz gesetzt. Ihr Kopf war an den Seiten fast kahlgeschoren, und oben auf dem Kopf waren etwa zweieinhalb Zentimeter lange graue Haare stehen geblieben, eine Art Bürstenhaarschnitt. Billiger Schmuck an Hals und Armen klirrte, als sie die Hand zum Schwur hob.
Sie sah Nate voll Entsetzen an. Ihre Brüder hatten sie auf das Schlimmste vorbereitet.
Aber es war Freitag, und Nates Bedürfnis, die Stadt zu verlassen, war dringender als das eines Hungrigen, der etwas zu essen brauchte. Er lächelte ihr zu und begann mit einfachen Fragen zu ihrem Lebenslauf: Kinder, Jobs, Ehen. Eine halbe Stunde lang verlief alles angenehm. Dann begann er, ihre Vergangenheit zu erforschen. Als er sie fragte: »Wie oft haben Sie eine Alkohol- oder Drogenentziehungskur mitgemacht?« war sie entsetzt. Darauf sagte er: »Ich habe das selbst viermal durchgemacht. Sie brauchen sich also nicht zu schämen.« Sein Freimut entwaffnete sie.