Das Geräusch leiser Schritte riß ihn aus seinen Gedanken. Er sah auf, drehte sich um und sah El-tra nachdenklich an. Das Licht wurde schwächer. Skar streifte den verkohlten Stoff von seinem Schwert, riß wieder ein Stück von seiner Decke und entzündete es. Diesmal war er auf den Ansturm von Licht vorbereitet, aber es schien ihm auch weniger schlimm, zwar noch immer schmerzhaft intensiv, aber nicht mehr so voller Wut wie beim ersten Mal. El-tra ging stumm an ihm vorbei. Skar konnte die Anspannung, unter der der Sumpfmann stand, spüren. Das Gefühl, beobachtet, belauert zu werden, war hier stärker. Aber er war auch plötzlich sicher, daß sie allein waren. Was sie fühlten, war nichts als ein schwacher Hauch der Vergangenheit. Die Spuren, die die Jahrtausende, ohne auch nur die mindeste Veränderung im Fluß der Zeit zu bewirken, hinterlassen hatten. Sie standen in einem Grab. Und sie fühlten es.
El-tra deutete auf den Boden neben sich und ließ sich auf die Knie nieder. Skar trat neben ihn. Er sah die obersten Stufen einer Treppe, die weiter in die Tiefe führte, hinab in einen Schacht, der von gesprungenem Glas wie von einem gewaltigen Pfropfen ausgefüllt war. Das Gebäude mußte sich auch unter diesem Keller noch fortsetzen, vielleicht Teil eines gewaltigen, Stockwerk um Stockwerk in die Tiefe reichenden Labyrinthes, das noch intakt sein mochte, unversehrt und geschützt durch den Panzer aus Glas und geschmolzenem Stein, der über ihm lag.
»Gehen wir«, murmelte er. »Hier ist nichts.« Er sprach leise, und doch erfüllten seine Worte den Raum mit bizarrem kicherndem Leben. Dies war kein Ort, an dem Menschen sein sollten. El-tra stand auf und drehte sich um, blieb aber noch einmal stehen und sah zu einer Stelle neben der zerborstenen Seitenwand. Etwas Dunkles, ungeheuer Massiges und Großes ragte halb aus dem erstarrten Glas.
Skar trat zögernd näher. Es war schwer zu erkennen, was sie eigentlich vor sich hatten; sein Blick schweifte immer wieder ab, und er mußte seine Augen bewußt zwingen, hinzusehen.
Das Ding hatte entfernte Ähnlichkeit mit einem Menschen. Es war größer, sehr viel größer, und auf schwer zu beschreibende Art massig, von der Wucht und Unaufhaltsamkeit einer Naturgewalt. Es mußte eine Statue sein, irgendein blasphemischer Gott, den die Menschen, die hier gelebt hatten, angebetet und in Stein oder Eisen geschaffen hatten. Es war schwarz, eine Farbe wie uraltes, glänzendes Horn, und obwohl es in einer halb kauernden, aufspringenden Haltung in die Wand eingebettet war, sah Skar, daß es aufgerichtet weit über drei Meter messen mußte. Sein Körper war vollkommen in eine glatte Rüstung gehüllt, aus deren Schultern, Knien und Ellbogen fingerlange, reißende Dornen wuchsen. Seine Pranken waren groß wie Skars Kopf; fürchterliche Klauen mit fünf Fingern und zwei gegeneinander gerichteten, kräftigen Daumen. Das Gesicht war abgewendet; Skar konnte es nicht erkennen.
»Was ... was ist das?« flüsterte er. Seine Stimme bebte, erschüttert von einer Furcht, gegen die er hilflos war. »Ein Lebewesen?« El-tra schüttelte den Kopf; eine rasche, abgehackte Bewegung, die zu rasch kam, um wirklich eine Antwort auf Skars Frage sein zu können. Der Sumpfmann wußte sowenig wie er, ob dieses Ungeheuer jemals gelebt hatte oder nicht. Er wollte es nicht. Ein Ding wie dieses durfte niemals gelebt haben.
Skar streckte zögernd die Hand aus und berührte die vorgestreckte Klaue des Ungeheuers mit den Fingern. Die Bewegung kostete ihn unglaubliche Überwindung; in ihm blitzte plötzlich die Vision auf, daß dieses Ding im gleichen Moment, in dem er es berührte, wieder zum Leben erwachen, sich mit einem brüllenden Schrei aus seinem gläsernen Gefängnis befreien und über ihn und den Sumpfmann herfallen würde. Und doch, obwohl es seiner ganzen Kraft bedurfte, die Bewegung zu Ende zu führen, war da noch etwas anderes in ihm, etwas, das ihn zwang, die Statue anzustarren, sie zu berühren.
Sein dunkler Bruder ... Es war das erste Mal seit dem Kampf mit Del und der Errish, daß sich die unsichtbare Stimme in ihm wieder meldete, nicht mit Worten oder Gefühlen diesmal, sondern als sanfter, auf morbide Weise beinahe wohltuender Druck, körperlos und nur als das Wissen, da zu sein.
Skars Finger glitten über die Krallenhand der Statue, glitten an ihrem Arm hinauf und verharrten, als er gegen die wasserklare Wand aus Glas stieß, in die das Ungeheuer zum Großteil eingebettet war.
»Was ist es?« fragte El-tra. »Eisen?«
Skar schüttelte den Kopf. Er war sich nicht sicher - vielleicht lag es an den verzerrten Echos, die die glitzernden Wände zurückwarfen, vielleicht an seiner eigenen Nervosität -, aber er glaubte fast so etwas wie Furcht in der Stimme des Sumpfmannes zu verspüren; ein Gefühl, von dem er bisher nicht einmal gewußt hatte, daß die Schattenmänner es kannten.
»Nein«, antwortete er nach einer Weile. El-tra schien eine weitere Erklärung zu erwarten, aber Skar schwieg. Es war kein Eisen, weder Eisen noch Stein - das Material sah aus wie Horn, und es fühlte sich an wie Horn, Horn oder vielleicht Knochen. Nichts an der Rüstung, die der Gigant trug, schien geschmiedet oder auf andere Weise bearbeitet worden zu sein. Seine Formen wirkten, obwohl gewaltig und fremder als alles, was er jemals zu Gesicht bekommen hatte, auf schwer zu bestimmende Art natürlich. Gewachsen.
Skar zog die Hand so hastig zurück, als hätte er unvermittelt glühendes Eisen berührt. Mit einem schnellen Schritt trat er neben El-tra und deutete auf die Treppe.
»Wir sollten gehen«, sagte er noch einmal.
Diesmal widersprach der Schattenmann nicht, und als Skar in das wogende Nebelgesicht unter der Kapuze blickte, erkannte er Furcht, Furcht, die ebenso tief und vielleicht tiefer als seine eigene war. Es war nicht das, was sie wirklich gesehen hatten - die Statue war bei aller Schrecklichkeit doch nicht mehr als eine leblose Skulptur aus Stein oder Horn oder irgendeinem anderen Material, in dem die Bewohner dieses Landes ihren Gott, vielleicht auch einen Dämon, den sie fürchteten und auf diese Weise zu bannen hofften, nachgebildet hatten. Es hätte Skar nicht einmal sehr viel mehr erschreckt, einem solchen Ungeheuer lebend und leibhaftig gegenüberzustehen. Schlimmer war das, was sie beide spürten, nicht mit ihren Sinnen, dafür aber um so deutlicher mit ihren Seelen wahrnahmen: das ungeheure Gewicht der Jahrtausende, die auf diesem halb eingestürzten Gewölbe lasteten, den fremden, eisigen Hauch, der sie wie eine Vision aus einer vollkommen anderen Welt gestreift hatte. Sie hatten einen kurzen, einen ganz kurzen Blick in das Tuan geworfen, das hier gewesen war, lange bevor der Mensch seinen Fuß auf die Oberfläche dieser Welt gesetzt hatte, und schon diese flüchtige Vision hatte genügt, etwas in ihnen erstarren zu lassen.
Der eisige Wind schlug ihnen mit Macht entgegen, als sie den Treppenschacht verließen und wieder zwischen die glasierten Mauern der Ruine traten. El-tra entfernte sich rasch ein paar Schritte vom Ende der Treppe und blieb stehen. Seine Hand spannte sich so fest um das Schwert, daß Skar das leise Knacken seiner Gelenke hören konnte; ein Laut, der das Heulen des Sturmes zu unterlaufen und ungemildert an sein Gehör zu dringen schien, so, wie alle seine Wahrnehmungen plötzlich zweigeteilt waren: Der Sturm und die jagenden grauen Schatten ließen seine Umgebung noch immer zu einer bizarren Alptraumlandschaft werden, zu einem Ort, an dem Furcht etwas ebenso Selbstverständliches war wie Licht und Dunkelheit oder Wärme und Kälte; aber gleichzeitig sah er manches mit beinahe erschreckender Klarheit.
Zögernd ging er an El-tra vorbei, trat durch den halbierten Torbogen und wollte sich nach rechts wenden, zurück in die Richtung, in der ihr Lager war. Der Sumpfmann berührte ihn an der Seite, schüttelte den Kopf und deutete in die entgegengesetzte Richtung. Und jetzt, als hätte es El-tras Hinweis bedurft, um einen weiteren, verborgenen Sinn in ihm zu aktivieren, spürte er es wieder.