Und jetzt, endlich, begriff er.
5.
Gowenna und der zweite Sumpfmann erreichten die Ruine, als Skar zu seinem Pferd zurückkam. El-tra starrte ihn unverwandt an; ein Blick, der obwohl Skar seine Augen nicht sehen konnte, durchbohrend und beinahe schmerzhaft war; Warnung, Herausforderung, aber auch Ausdruck von Verständnis und beinahe Mitleid zugleich. Skar hatte kein Wort mehr gesprochen, sondern war nur stumm neben dem toten Krieger sitzen geblieben, bis El-tra sich erhoben und ihm das Zeichen gegeben hatte, mitzukommen. Aber er war sicher, daß der Mann aus Cosh genau wußte, was in ihm vorging. Auch ohne die kaum zu verstehende Seelenverwandschaft zwischen ihnen wäre es im Moment wohl nicht schwer gewesen, seine Gedanken zu erraten. Vielleicht, dachte er grimmig, hatten sie sich schon seit Tagen gefragt, wie lange es noch dauern würde, bis dieser arme kleine Narr endlich begriff, was hier vorging.
Er wartete, bis Gowenna ihr Pferd neben dem seinen zügelte, trat mit einem raschen Schritt neben sie und streckte die Hand aus, um ihr beim Absteigen zu helfen.
»Ich habe mit dir zu reden«, sagte er hart.
Gowenna hob müde den Kopf. Skar erschrak, als er ihr Gesicht sah. Es war nicht so sehr die Narbe; daran hatte er sich schon beinahe gewöhnt, so schrecklich der Anblick auch war. Aber auf dem unversehrten Teil ihres Gesichts lag ein Ausdruck so tiefer Müdigkeit, wie ihn Skar noch nie zuvor an einem lebenden Menschen gesehen hatte. Für einen Moment zweifelte er ernsthaft daran, daß in diesem ausgebrannten Körper überhaupt noch Leben war. Sie erschien ihm mehr denn je wie eine verzehrte Hülle, Fleisch, in dem keine Seele, sondern nur noch Haß war.
»Jetzt?« fragte sie. Ihre Stimme klang nicht mehr ganz so schrill und unmenschlich wie am Abend zuvor, aber noch immer schlimm genug, um seinen Zorn für einen winzigen Moment in Mitleid umschlagen zu lassen.
»Jetzt.« Irgend etwas in seiner Stimme oder seinem Gesicht schien anders zu sein als sonst, obwohl er sich Mühe gab, ruhig zu erscheinen. Gowenna hielt seinem Blick eine halbe Sekunde lang stand, nickte dann und stieg, seine Hand als Stütze gebrauchend, aus dem Sattel.
»Bitte.«
»Nicht hier«, sagte Skar. »Gehen wir irgendwo hin, wo wir ungestört sind.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die zerborstene Ruine hinter sich und machte mit der Linken eine auffordernde Geste. Ein grauer, gebückter Schatten erschien neben Gowenna, die Hand in einer vielleicht zufälligen, wahrscheinlich aber beabsichtigten Geste unter dem Umhang verborgen.
»Nur wir beide«, sagte Skar.
El-tra zeigte keine sichtbare Reaktion auf seine Worte, aber auf Gowennas Zügen erschien beinahe ein Ausdruck von Erheiterung. »Du entwickelst in letzter Zeit ein beachtliches Talent für dramatische Auftritte«, seufzte sie. »Aber wenn du darauf bestehst ...« Sie seufzte, lächelte ein etwas verunglücktes Lächeln und wandte sich an ihren Wächter. »Kehlem getrama«, sagte sie. »Toman.« Dann drehte sie sich wieder zu Skar um. »Gehen wir.«
»Was hast du ihm gesagt?«
»Daß er dir die Kehle durchschneiden soll, wenn du allein zurückkommst«, sagte Gowenna. »Was sonst?«
Skars Mißtrauen wuchs. Gowennas Worte paßten nicht zu dem Eindruck, den sie zu erwecken versuchte. Er sah einen Menschen vor sich, der am Rande des körperlichen und geistigen Zusammenbruchs stand - sie sprach schleppend, mit großen, erschöpften Pausen zwischen den einzelnen Worten, aber die Wahl ihrer Worte war nicht so, wie er es erwartet hatte. Trotzdem verzichtete er auf eine Antwort. Er fuhr herum, eilte ein paar Schritte in das steinerne Labyrinth hinein und blieb im Windschutz einer zerborstenen Wand stehen. Gowenna folgte ihm, langsamer und mit unsicheren, schleppenden Schritten. Und trotzdem spürte er in ihren Bewegungen eine Kraft, die über das hinausging, was sie ihm vorzuspielen versuchte.
Gowenna blieb einen halben Schritt neben ihm stehen, schlang die Arme um den Oberkörper und klapperte demonstrativ mit den Zähnen.
»Ich hoffe, du hast einen guten Grund dafür, mich hierherzuschleifen«, sagte sie. »Ich friere nicht gerne, weißt du?«
Skar ignorierte ihre Worte. »Du kannst mit dem Theater aufhören«, sagte er. Seine Stimme bebte, und seine Hände zuckten, als müsse er mit aller Macht gegen den Wunsch ankämpfen, sie um ihren Hals zu legen und zuzudrücken.
Auf Gowennas Gesicht erschien ein wachsamer, lauernder Ausdruck. Der Wind schien plötzlich ein ganz kleines bißchen kälter zu werden. »Was - meinst du?«
Skar atmete hörbar ein. »Gut«, sagte er, mühsam beherrscht. »Wenn du Wert darauf legst, daß ich dich wie eine Närrin behandele, dann tue ich es. Du bist nicht so krank, wie du mich glauben machen wolltest. Die Verbrennungen sind nur oberflächlich, und Tantors Medizin hat das Fieber wahrscheinlich schon in der ersten Nacht besiegt. Ich war ein Narr, Gowenna, daß ich es nicht gleich gemerkt habe. Du bist stark wie ein Mann, und du wärst wahrscheinlich eher in der Lage gewesen, den Rückweg über die Berge zu bewältigen, als ich.«
Gowenna schwieg eine Weile, aber es war ein Schweigen ganz besonderer Art, etwas, das mehr ausdrückte, als Worte es gekonnt hätten. »Und warum sollte ich das tun?« fragte sie. Plötzlich schwankte ihre Stimme nicht mehr, sondern war fest, von einer fast gelassenen Ruhe. Sie hatte erkannt, daß Skar ihr Spiel durchschaut hatte.
»Um mich zu bewegen, genau hier entlangzuziehen«, grollte er. »Ich habe dich unterschätzt, Gowenna - meine Gratulation! Es gelingt nicht vielen Menschen, mich so gründlich hinters Licht zu führen. Bisher dachte ich, Vela wäre die einzige. Aber du bist ihr ebenbürtig. Du sagst, du willst kein Mitleid, wie? Dabei ist es genau das, worauf du spekuliert hast. Ich hätte dich vor Combat zurücklassen und allein durch die Berge reiten können, aber du wußtest, daß ich es nicht tun würde.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Darauf, daß du die ganze Zeit gewußt hast, wo sich Vela verbirgt !« brüllte Skar. »Sie ist hier, irgendwo hier, und du hast es gewußt!«
Gowenna wirkte nicht im mindesten überrascht. Auf der unversehrten Hälfte ihres Gesichts erschien ein leicht erstaunter Ausdruck, aber es schien Skar eher ein Erstaunen über die Tatsache zu sein, daß er es erst jetzt entdeckt hatte.
»Wir haben einen ihrer Krieger gefunden«, fuhr er, etwas leiser, aber noch immer erregt, fort. »Er ist tot. Wahrscheinlich an Entkräftung gestorben. Sie ist hier entlanggezogen, Gowenna, und die Ausrüstung des Mannes stammt aus diesem Land. Wahrscheinlich ist Tuan der einzige Ort auf der Welt, an dem man einen Staubdrachen verbergen und sich eine Privatarmee aufbauen kann, ohne daß es jemand merkt.«
»Das stimmt«, antwortete Gowenna ruhig. »Aber es ist nur die halbe Geschichte. Sie wäre zu lang, um sie jetzt zu erzählen.«
»Ich möchte sie trotzdem hören.«
»Nicht jetzt.« Gowenna schüttelte den Kopf. »Ich weiß, ich hätte es dir längst sagen sollen, aber es ändert ohnehin nichts. Nicht für dich.«
»Es ändert vieles«, antwortete Skar. »Wenn nicht alles.«
Gowenna gab ein abfälliges Geräusch von sich. »Und was?«
»Ich will ... endlich wissen, was hier gespielt wird«, sagte Skar stockend. Er wunderte sich beinahe selbst, woher er die Beherrschung nahm, noch so ruhig zu sprechen. »Ich will wissen, worum es wirklich geht, Gowenna. Ihr habt mich vom ersten Augenblick an belogen und getäuscht, sowohl du als auch Vela. Ihr -«