Er nickte, blieb eine Armlänge vor den beiden Sumpfbewohnern stehen und hob erneut die Hand an den Kopf. »Wie lange ... habe ich geschlafen?« fragte er stockend. Der Klang seiner eigenen Stimme versetzte ihn in Schrecken. Er war heiser, und das Sprechen bereitete ihm Mühe. Er mußte geschrien haben. »Den ganzen Tag und die halbe Nacht«, antwortete El-tra, einer der beiden El-tra, ohne daß Skar - obgleich er kaum einen Meter vor ihnen stand - feststellen konnte, welcher.
»Was ist mit Gowenna?« fragte er. Sein Blick glitt an den beiden Schattenmännern vorbei dorthin, wo Gowenna lag, aber er konnte nicht mehr als einen dunklen Umriß vor dem schimmernden Lavaglas der Wand erkennen.
El-tra hob hastig den Arm und hielt ihn zurück, als er zu ihr hinübergehen wollte. Skar konnte die winzigen feuchten Schuppen seiner Haut fühlen, obwohl die Hand nicht mehr als ein wirbelnder Schatten war. Ein Gefühl nach Feuchtigkeit und Sumpf durchströmte ihn.
»Laß sie«, bat El-tra. »Sie ist wach, aber sie ...« Zum ersten Mal, seit Skar die Sumpfmänner kennengelernt hatte, erlebte er, daß einer von ihnen spürbar nach den richtigen Worten suchte, und die Erkenntnis erschreckte ihn mehr als alles andere. »Sie will dich nicht sehen«, sagte der Sumpfmann schließlich. »Weder dich noch einen von uns. Bist du hungrig?«
»Ja.«
»Dann komm. Wir haben Fleisch und Früchte.«
Einer der Schattenmänner geleitete ihn zum westlichen Ende des Kraters, während der andere stumm und ohne die geringste Regung dort stehenblieb, wo er war. Skar spürte wieder die Kälte. Der Sturm raste heulend über den steinernen Krater hinweg, aber die Windböen schickten einen eisigen Hauch in den glasierten Kessel hinunter. Skar fröstelte. Die Kälte schien nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele zu berühren.
Dicht vor der Felswand brannte ein Feuer. El-tra hatte die Flammen so geschickt mit Steinen und Teilen ihrer Ausrüstung abgeschirmt, daß ihr Schein selbst aus zwei Schritten Entfernung nicht zu erkennen war. Skar ließ sich mit einem dankbaren Nicken neben der Feuerstelle nieder, hielt die Finger über die Flammen und genoß das Prickeln, mit dem sich die Kälte Stück für Stück aus seinen Händen entfernte. Wärme... Er wußte schon gar nicht mehr, was Wärme war. Selbst das Feuer wärmte nicht wirklich, sondern milderte nur die Kälte.
El-tra ließ sich auf der anderen Seite des Feuers nieder, griff unter seinen Mantel und reichte Skar stumm eine lederne Feldflasche. Skar trank. Das Wasser schmeckte seltsam, und es dauerte eine Weile, bis Skar begriff, daß es kein Quellwasser, sondern geschmolzener Schnee war. Nach den ersten Schlucken spürte er, wie durstig er wirklich war. Zwanzig Stunden Fieber hatten seinem Körper mehr Flüssigkeit entzogen, als er geglaubt hatte. Er leerte die Flasche bis zur Hälfte, setzte sie ab und trank nach einem aufmunternden Nicken des Sumpfmannes auch den Rest. Hinterher war sein Mund so trocken wie zuvor, und als er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, spürte er, daß sie aufgesprungen und vereitert waren.
Er gab El-tra die leere Flasche zurück, griff nach dem Braten, der in dünnen Streifen an einem Stock über dem Feuer hing, und begann vorsichtig zu essen. Sein Magen revoltierte schon nach dem ersten Bissen; Übelkeit stieg in dünnen, salzigen Linien in ihm auf, aber er zwang sich, weiterzuessen.
»Tantor?« fragte er mit einer Kopfbewegung auf das Fleisch. El-tra verneinte. »Mein Bruder war in den Bergen«, sagte er, »an der Stelle, die Tantor dir bezeichnet hat. Wir fanden einen Beutel voller Salben und Medizin und etwas Feuerholz. Keine Pferde.« Skar sah verwirrt auf. Er hatte das Wiehern eines Pferdes gehört, und selbst jetzt glaubte er von Zeit zu Zeit trotz des monotonen Heulens des Sturmes ein leises Schnauben und Schaben zu hören; Pferdehufe, die über Gestein schrammten.
»Vela hat sie zurückgelassen«, sagte El-tra, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Die Pferde ihrer Krieger. Sie hat sie auseinandergetrieben, aber wir konnten sie wieder einfangen.«
Vela. Der Klang dieses Namens löste irgend etwas in ihm aus, aber er wußte nicht, was.
»Wir haben eines der Tiere geschlachtet«, fuhr El-tra fort. »Sein Fleisch wird reichen, bis wir bewohntes Gebiet finden.« Skar beugte sich vor, griff nach einer weiteren Bratenscheibe und biß hinein. Allmählich begann er den Geschmack zu spüren. Seine Sinne erwachten nach und nach, aber ein Teil seines Denkens war noch immer verschleiert. Vielleicht nahm er deshalb alles so ruhig hin - er erinnerte sich an jede Einzelheit, die geschehen war, aber es war, als wären es nicht seine Erinnerungen, sondern die eines Fremden; Bilder, die irgendwo in seinem Gedächtnis waren, ohne daß er wußte, wie sie dorthin gekommen waren, und die ihn nichts angingen.
»Wie geht es Gowenna?« fragte er noch einmal. Auch seine Stimme begann sich zu normalisieren, wenngleich sie ihm noch immer fremd erschien: heiser und zusätzlich verzerrt durch die hallenden Echos von den mit Glas überzogenen Kraterwänden. »Sie wird leben«, antwortete El-tra. »Aber sie wird nicht mehr die gleiche sein, die sie war.«
El-tras Worte hätten Skar erschrecken müssen, aber sie taten es nicht. Noch immer erschien ihm alles unwirklich. Szenen eines Traumes. Doch er war nicht mehr der, der er gewesen war. El-tra stand auf, verschwand lautlos in der Dunkelheit und kam nach wenigen Augenblicken zurück. In seiner Hand blitzte ein schlankes, silbernes Schwert. Er setzte sich, beugte sich vor, ohne auf die züngelnden Flammen zu achten, die an seinem Mantel leckten, und reichte Skar das Tschekal. Skar nahm die Waffe mit gemischten Gefühlen entgegen.
Es war sein Schwert, und obwohl es das zweite Mal war, daß er diesen Gedanken dachte, traf ihn die Erkenntnis mit der gleichen grausamen Wucht wie beim ersten Mal. Es war seine Waffe, nicht irgendein Schwert, sondern ein Einzelstück, zu dem es auf ganz Enwor keinen passenden Gegenpart gab, so unverwechselbar wie er selbst. Der Rat der Dreizehn hatte es für ihn gefertigt und ihm gegeben, das Zeichen seiner Würde als Satai, verliehen in einer Zeremonie, die zu lange zurücklag, als daß die Zeit, die seither vergangen war, noch mehr als ein abstrakter Begriff hätte sein können. Es war kein Stück toten, gehämmerten Metalls, wie die Waffen, die Gowenna und die Sumpfmänner an ihren Seiten trugen, sondern ein Ding mit einer Persönlichkeit und einem Charakter. Er dachte an das, was Gowenna über das Schwert gesagt hatte, daß es nichts als ein Ausdruck übersteigerter Männlichkeit, eine Art Ersatzgott sein sollte, aber das stimmte nicht. Die Waffe gehörte zu ihm, und die dünnen, silbernen Linien der Gravur auf ihrer Klinge waren ihm so vertraut wie die Linien in seinem Gesicht, der verschlungene fünfzackige Stern auf ihrem Griff war so wenig von ihm wegzudenken wie die Narbe auf seiner Wange. »Warum wehrst du dich dagegen?« fragte El-tra plötzlich. Skar sah auf. Der Sturm trug Schnee in dünnen, wirbelnden Schleiern über den Krater, und eine einzelne Flocke löste sich aus seinem brüllenden Griff und sank lautlos auf die Klinge des Tschekal herab, als hätte sie im letzten Moment ihren Kurs gewechselt, um den züngelnden Flammen, die darunter auf sie warteten, zu entgehen. Skar hob die Hand, um sie fortzuwischen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern legte die Klinge behutsam neben sich auf den Boden, weit genug vom Feuer entfernt, daß seine Hitze die Schneeflocke nicht erreichen konnte. »Wogegen?« fragte er nach einer Weile. Unnötig, ein dummes Spiel mit Worten, um das, was er im Grunde längst wußte, noch einmal hinauszuzögern, und sei es nur um wenige Sekunden. El-tra lächelte. Er sah es nicht, aber er spürte es durch die wirbelnden Schleier unter seiner Kapuze hindurch.