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Nach einer Ewigkeit, vielleicht aber auch nur nach Augenblicken, riß die Wolkendecke über ihren Köpfen auf, und das erste Grau der Dämmerung schickte schattige Finger über die Ebene. El-tra blieb stehen, hob in einer Bewegung, die nun nicht nur müde wirkte, sondern es auch war, die Hand und deutete nach vorn. Skar trat neben ihn, löste die verkrampften Finger vom Zügel seines Pferdes und blickte in die Richtung, in die der Sumpfmann deutete.

Vor ihnen lag die Hellgor. Und es war keine Schlucht, es war eine Klippe.

Die Lücke in der Wolkendecke schloß sich wieder, aber die Sonne war aufgegangen, und das Licht reichte auch so dazu aus, daß man die gewaltige Kluft vor ihnen erkennen konnte. Sie waren näher, als Skar vermutet hatte; der dünne, graue Strich, den sie am Abend zuvor erblickt hatten, war nicht die Schlucht selber gewesen, sondern ihr gegenüberliegender Rand - er und ein Teil des Felsens, der senkrecht und so glatt, als wäre er mit einem gewaltigen Messer geschnitten und hinterher sorgsam poliert worden, in die Tiefe stürzte. Der jenseitige Rand der Kluft lag allerhöchstens noch anderthalb Meilen entfernt.

»Bei allen Göttern!« keuchte Gowenna. Ihre Stimme bebte. Skar konnte sehen, daß sie vergeblich versuchte, den Anblick zu verarbeiten und sich gegen die Gewaltigkeit der Erscheinung zu wappnen. Ein grauer, halb durchsichtiger Nebel hing wie eine Decke über der Schlucht, seltsamerweise war es unberührt vom Toben des Sturmes, und die Luft auf der anderen Seite schien zu flimmern, als koche sie vor Hitze. Was dahinter lag, war nicht zu erkennen.

»Das ist... gewaltig«, sagte Gowenna stockend. Sie hatte ihre Fassung wiedergefunden, aber der Ausdruck in ihrer Stimme sagte Skar, daß es in ihrem Inneren immer noch kochte.

Müde schüttelte er den Kopf. »Ich kann das Wort gewaltig nicht mehr hören«, murrte er. »Seit wir dieses Land betreten haben, beginne ich mir allmählich wie ein Zwerg vorzukommen. Hast du eine Idee, wie wir dort hinüberkommen sollen?«

»Es muß einen Weg geben«, sagte Gowenna schnell. Zu schnell, fand Skar. »Vela und ihre Männer sind hier entlanggeritten. Es muß eine Brücke geben, einen Steg, oder ...« Sie verstummte, als sie Skars Blick begegnete. Der Anblick der Schlucht ließ jeden Gedanken an eine Brücke schlichtweg lächerlich klingen.

»Vielleicht sind sie auch geflogen«, knurrte Skar. »Wenn sie überhaupt jemals hier waren.«

»Sie waren hier«, mischte sich El-tra ein.

Skar fuhr mit einem Ruck herum. »So?« sagte er aufgebracht. »Und woher willst du das wissen?« Er deutete mit einem abfälligen Grinsen auf den Boden und stampfte zur Demonstration mit dem Fuß auf. »Erzähl mir nicht, daß du auf diesem Grund Spuren erkennen kannst. Hier kann eine Armee vorbeiziehen, ohne auch nur einen Kratzer zu hinterlassen.«

»Das stimmt«, sagte El-tra ungerührt. »Aber es gibt andere Spuren als die, die du mit dem Auge siehst, Bruder. Sie waren hier - der Drache und acht Reiter, vielleicht auch zehn. Und es ist noch nicht sehr lange her. Nicht länger als drei Tage.«

»So!« sagte Skar noch einmal. »Und wohin sind sie?«

El-tra deutete auf die Schlucht und folgte der Linie des Felsabbruches mit der Hand. »Dorthin. Sie sind geritten, sehr schnell. Schneller als jemand, der noch eine weite Strecke vor sich hat und sein Pferd schonen muß. Es kann nicht mehr weit sein.«

»Nicht mehr weit...« Skars Blick folgte dem Monstrum von Canyon, bis er sich irgendwo im Südosten im Grau der Dämmerung verlor. Selbst auf diese große Entfernung glaubte er den Sog der Tiefe zu spüren, den dumpfen, verlockenden Ruf, der aus der Höllenkluft emporwehte. Vielleicht, dachte er, wäre es das Beste: einen Schritt zu machen, sich fallen zu lassen und auf den Aufprall zu warten.

Er verscheuchte den Gedanken mit einem wütenden Knurren, ging zu seinem Pferd zurück und schwang sich in den Sattel. Das Tier scheute, und einen Moment lang mußte er all seine Kraft und Geschicklichkeit aufwenden, um nicht wieder zu Boden zu stürzen.

»Wenn es nicht mehr weit ist, dann laßt uns reiten.«

El-tra zögerte sichtlich. »Wir sollten bis zum Abend ausruhen«, sagte er. »Wenn es eine Brücke gibt, wird sie bewacht sein. Wir werden kämpfen müssen.«

Skar starrte ihn finster an. »Und?« fragte er. »Dazu habt ihr mich doch mitgenommen, oder?«

7.

Die Brücke war unmöglich, aber sie existierte. Sie tauchte irgendwann um die Mittagszeit aus dem Dunst der Ebene auf, ein dünnes, mit Schatten gemaltes Filigran, das mit jedem Hufschlag der Pferde an Substanz - aber nicht an Glaubwürdigkeit - gewann. Ihre Stützen zogen sich in einem kühnen, weit geschwungenen Bogen über die Schlucht; ein doppeltes, sichelförmiges Geländer, das sich irgendwo auf der anderen Seite in wehenden Nebel aufzulösen schien, kurz bevor es den Boden berührte. Die ganze Konstruktion schien zu beben und im Rhythmus des Windes über dem Nichts zu tanzen; eine optische Täuschung, bedingt durch die Entfernung und die schlechten Sichtverhältnisse, aber trotzdem eindrucksvoll.

Sie hielten, noch immer in respektvollem Abstand von der Felskante, nebeneinander an und starrten das bizarre Bauwerk stumm und lange an, und selbst Skar, der geglaubt hatte, gegen alles gewappnet zu sein und sich von keinem auch noch so gewaltigen Anblick mehr beeindrucken zu lassen, rang lange und vergeblich nach Worten. Es war nicht die Größe der Brücke allein - das Goldene Tor von Kohon, das die Zufahrt des Kriegshafens überspannte, war nahezu ebenso lang wie diese Brücke, und seine steinernen Stützpfeiler mußten ebenso hoch, wenn nicht höher in die Luft ragen, aber dem Goldenen Tor fehlte - wie eigentlich jedem Bauwerk, an das er sich erinnern konnte - die graziöse Leichtigkeit, die dieser Steg trotz seiner ungeheuren Abmessungen ausstrahlte. Der Bogen, in dem er sich über das Nichts spannte, spottete der Schwerkraft und den Naturgesetzen, jeder einzelne Pfeiler, jede Stütze, war ein Triumph über die Natur, eine Absage an alles, was er jemals über Anziehungskraft und Statik gehört hatte.

Schließlich war es El-tra, der das Schweigen brach. »Wir sollten uns weiter von der Schlucht zurückziehen«, sagte er mit dem ihm eigenen Pragmatismus. »Wenn es Wachen gibt, so sehen sie uns zu früh.«

Skar löste widerwillig den Blick von der Brücke und sah nach Westen. Sie waren, ohne daß er es bisher bewußt wahrgenommen hätte, seit Stunden über vollkommen flaches, deckungsloses Gelände geritten, aber es war nur ein Streifen, der - wenn auch Meilen breit - sich doch eng an die Konturen der Hellgor anschmiegte und ihr folgte wie grüner Uferbewuchs dem Lauf eines Flusses. Zur Rechten, jenseits der polierten dunkelgrünen Glasebene, zogen sich die zerborstenen Ruinen Tuans in gleichbleibender Monotonie dahin. Dort würden sie sich der Brücke nähern können, ohne zu früh gesehen zu werden.

»Könnt ihr ... feststellen, ob sie bewacht ist?« fragte er unsicher.

El-tra wandte den Blick, sah ihn an und schüttelte nach einer merklichen Pause den Kopf. »Wir können sehen, was war und was ist«, erklärte er geheimnisvoll. »Nicht was sein wird.«

Skar grinste säuerlich. »Wenn das, was du jetzt so umständlich erklärt hast, nein heißen soll, dann stimme ich dir zu«, sagte er. »Reiten wir ein Stück nach Westen.«

El-tra gab einen Laut von sich, der Ähnlichkeit mit einem Lachen hatte. »Das soll es heißen«, bestätigte er.

Sie wichen im rechten Winkel von ihrem bisherigen Weg ab und ritten zurück in die Alptraumlandschaft, der sie vor wenigen Stunden erst entronnen waren. Der Wind blies ihnen jetzt in die Gesichter, und schon aus diesem Grunde war eine Unterhaltung unmöglich. Sie legten den Weg schweigend zurück, langsam, aber mit verbissener Stetigkeit, und bewegten sich auch dann noch weiter von der Hellgor fort, als sich die Reihe der geschwärzten Ruinen wie eine dunkle Festungsmauer hinter ihnen geschlossen hatte; ein Wall, der nicht dem Ansturm des Feuers, wohl aber dem der Zeit standgehalten hatte. Erst, als El-tra sicher war, daß ihre Bewegungen in dem schwarzgrünen Labyrinth der toten Stadt nicht mehr auszumachen sein würden, schwenkten sie abermals herum und ritten wieder parallel zur Hellgor. Das gewaltige schwarze Gespinst der Brücke wanderte langsam auf sie zu, schwang schließlich, der Krümmung des Weges, den sie nahmen folgend, ein Stück zurück und lag dann neben ihnen.