Skar hob die Schultern. »Ich weiß es nicht«, antwortete er offen. »Ich weiß, daß ich irgend etwas für dich empfinde, Gowenna. Aber ich weiß nicht, ob es Haß oder Liebe ist. Vielleicht beides. Vielleicht... Nein, ich glaube nicht, daß ich dich wirklich hassen kann.«
»Und warum nicht? Weil ich eine Frau bin und es vielleicht das letzte Mal ist?« Plötzlich, von einer Sekunde zur anderen, versteifte sie sich in seinen Armen, und ihre Stimme, die zuvor weich und voller zitternder Begierde geklungen hatte, wurde plötzlich so spröde wie das Glas, das sie umgab. Ihre rechte Hand löste sich mit einem Ruck aus seiner Umklammerung und fuhr zu ihrem verätzten Gesicht, krallte sich in die kaum verheilten Narben, die der Atem des Drachen in ihr Fleisch gegraben hatte. »Nimmst du deshalb sogar das in Kauf? Lieber eine verstümmelte Frau als gar keine?«
Ihre Worte hatten bewußt verletzend klingen sollen, aber der einzige Schmerz, den Skar spürte, war ihr eigener. Die Waffe war stumpf geworden, und ihr Angriff auf ihn nichts als ein letzter verzweifelter Versuch, sich selbst zu belügen. Mit einer plötzlichen wütenden Bewegung machte sie sich ganz los, riß Umhang und Kettenhemd herunter und streifte die Bluse ab. Nicht nur ihr Gesicht war verunstaltet. Ein breiter, wie blasig erstarrter roter Schaum aussehender Streifen verätzter Haut zog sich über ihren Hals bis weit hinab zur Schulter, dünne, rote Finger bis zu ihrem Ellbogengelenk und ihrer linken Brust herabschickend. Darüber lag ein Netz grauer Fäden, der Baumwollstoff ihrer Bluse, vom Höllenatem der Bestie für alle Zeit in ihre Haut gebrannt.
»Gefällt dir, was du siehst?« keuchte sie. »Du kannst es haben, Satai! Sei stolz darauf - du bist der erste Mann, dem ich mich freiwillig hingebe. Und wenn dich der Anblick zu sehr stört, dann wirf einfach ein Tuch über mein Gesicht, damit du es nicht zu sehen brauchst...« Ihre Stimme zitterte, verlor den Halt und ging plötzlich in ein würgendes Schluchzen über. Sie krümmte sich wie unter Schmerzen, schlug die Hände vor das Gesicht und begann haltlos zu weinen.
»Warum quälst du dich?« fragte Skar.
Ihr Kopf flog mit einem Ruck in den Nacken. Ihre Lippen zitterten, aber sie brachte keinen Laut hervor. Skar trat auf sie zu, nahm sie in die Arme und hielt sie, wortlos und fest, bis ihre Schultern aufhörten zu zucken und die Tränen an seiner Brust versiegten. Dann nahm er sie auf - sie war seltsam leicht, als wäre ihr Körper nicht mehr als eine leere Hülle - trug sie wie ein Kind in den Schutz der Ruine zurück und legte sie behutsam hin. Sie liebten sich auf einem Bett aus Glas und unter einem Himmel aus wirbelndem Weiß, und die ganze Zeit über spürte Skar, daß es nichts Echtes war, daß seine und ihre Gefühle noch immer so starr und kalt waren wie die schimmernden Wände, die sie umgaben, daß das, was sie taten, im Grunde nichts als Trotz und Verzweiflung ausdrückte; die vielleicht letzte Möglichkeit, sich gegen die Kälte und den Tod, die dieses Land beherrschten, zur Wehr zu setzen. Die Gefühle, die er noch vorhin zu spüren geglaubt hatte, waren da, aber sie waren eingesperrt, für ewig gefangen hinter der Kluft, die sie voneinander trennte.
Gowenna schlief hinterher ein, eingehüllt in ihren Mantel und an seine Seite gepreßt, aber Skar lag weiter wach auf dem harten Glas. Er war müde, doch je tiefer seine körperliche Müdigkeit wurde, desto unruhiger und wacher wurde sein Geist. Es war seltsam still in dem nach oben offenen Raum, und selbst das Atemholen des Windes schien gedämpft. Vorsichtig drehte er den Kopf und sah auf die schlafende Frau neben sich herab. Ihr Gesicht war bleich, und wäre das regelmäßige Heben und Senken ihrer Brust nicht gewesen, so hätte er sie für tot gehalten. Aber vielleicht waren sie es ja auch bereits, so wie diese beiden Krieger dort drüben und all die anderen, die auf dem Weg hierher gestorben waren. Vielleicht.
Aber vielleicht, dachte er, kann man ein Totes Land auch nur mit einer Armee von Toten erobern.
Er stand auf, so behutsam, wie er konnte, um Gowenna nicht zu wecken, zog sich rasch an und breitete eine zweite Decke über sie, ehe er sie verließ. Die Sonne senkte sich dem Horizont entgegen, und die Schatten wurden länger. Er blieb einen Moment stehen, sah sich unschlüssig um und ging schließlich wieder zu den beiden Sumpfmännern zurück.
Die Stunde, von der Gowenna gesprochen hatte, war vorüber, zweimal, aber sie hockten noch immer in der gleichen Stellung, in der er sie verlassen hatte, neben den beiden gefallenen Kriegern, die Hände flach auf Gesichtern und Stirnen der Männer.
Er blieb stehen, räusperte sich - mehrmals und so laut, daß sie es hören mußten - und ging erst weiter, als die beiden Schattenmänner aus ihrer Starre erwachten und ihm die Gesichter zuwandten.
Der Anblick traf ihn wie ein Fausthieb.
Unter den tief in die Stirn gezogenen Kapuzen waren keine Schatten mehr, keine Nebelgesichter, in denen nur wogendes Grau und Geheimnisse waren.
Die Gesichter der beiden El-tra waren menschlich; das des einen schmal und mit dünnen, wie mit einem Griffel gezogenen Linien, dunkeläugig - das des anderen breitflächiger, gerötet und jünger, versehen mit einem dünnen Oberlippenbart, der vergeblich versuchte, ihm einen etwas markanteren Anstrich zu geben.
Die Gesichter der beiden Krieger, die sie getötet haben!!! durchzuckte es Skar. Ein eisiges Gefühl der Lähmung machte sich in ihm breit, eine Furcht, die ihn warnungslos ansprang und sein Denken übermannte.
Auch ihre Gestalten waren verändert. Bisher waren sie identisch gewesen, kleine, graue gefährliche Zwillinge, einer der Schatten des anderen. Jetzt war einer von ihnen, der Jüngere, deutlich größer und breitschultriger, und seine Bewegungen waren eckig und starr, nicht mehr die eines Sumpfgeistes, sondern eines Menschen. Für einen winzigen Moment dachte Skar an den Tag zurück, an dem er die Sumpfmänner zum ersten Mal gesehen hatte. Sie waren, damals noch zu dritt, in der Maske von Menschen aufgetreten. Es war keine Maske gewesen.
»Bist du bereit?« Es war nicht mehr El-tras Stimme, die zu ihm sprach.
»Ich ...« Skar stockte verwirrt, sah hilflos von einem der Sumpfmänner zum anderen und schüttelte den Kopf. »Was ist geschehen?« fragte er. »Wie ...«
»Die Zeit drängt«, fiel ihm El-tra ins Wort. »Verion und Bend sind bereits überfällig. Die Wachen an der Kluft werden mißtrauisch werden, wenn sie nicht zurückkehren. Wir haben nur diese eine Chance. Geh und wecke Gowenna.«
Noch während Skar, noch immer starr vor Überraschung und ungläubigem, nur allmählichem Begreifen, dastand und die beiden auf so unglaubliche Weise verwandelten Brüder anstarrte, begannen diese sich ihrer Umhänge zu entledigen. Darunter waren sie nackt; wie ihre Gesichter waren auch die Körper der beiden Krieger perfekt nachgeahmt bis ins letzte Detail. Skar sah, daß die Männer krank sein mußten - ihre Haut wies große, haarlose Flecken auf, in deren Zentren kleine entzündete Eiterpusteln saßen. Sie bückten sich, zogen die Toten aus und schlüpften hastig in deren Kleider; die Helme hoben sie zwar auf, streiften sie jedoch nicht über. Skar löste sich mühsam von dem bizarren Anblick und ging mit eiligen Schritten zu Gowenna zurück. Sie schlief noch immer, öffnete jedoch sofort die Augen, als er sie an der Schulter berührte. Ihr Blick war klar.
»Sind sie bereit?« fragte sie.
Skar nickte wortlos. Gowenna würde über die Verwandlung der El-tra nicht erstaunt sein. Sie mußte gewußt haben, was geschehen würde.
Sie stand auf, zog sich eilig an und begab sich dann an seiner Seite zu den El-tra. Die Sumpfmänner waren mittlerweile damit fertig, sich umzuziehen. Es gab jetzt nichts mehr, was sie noch von den beiden echten Kriegern unterschieden hätte. Sie waren perfekte Kopien; mehr noch, sie ahmten die beiden Soldaten nicht nach - sie waren es.
»Wir nehmen die Tiere von Verion und Bend«, sagte der Jüngere. »Ihr sucht euch unter den anderen die ausgeruhtesten Pferde aus.«