Crom sah einen Moment nachdenklich auf die zusammengekrümmte graue Gestalt auf der Liege hinunter, streckte die Hand aus, als wolle er sie berühren, und drehte sich dann um, ohne die Bewegung zu Ende zu führen.
»Ich hätte nicht gedacht, daß ihr so weit kommt«, fuhr er, nun wieder an Skar gewandt, fort. »Es scheint, als wären wir gut beraten gewesen, hier auf euch zu warten.«
Skars Blick irrte verzweifelt an ihm vorbei die Leiter empor. Er konnte die gedämpften, regelmäßigen Schritte des Mannes oben auf der Plattform hören. Wenn es ihnen nicht gelang, ihn zu überwältigen, dann war alles umsonst gewesen.
»Ist Tibor noch oben?« fragte El-tra.
Crom sah ihn verwundert an. »Sicher«, antwortete er. »Wo soll er sonst sein? Und warum fragst du?«
»Es ist Zeit für die nächste Patrouille«, erwiderte El-tra ruhig. »Und er ist an der Reihe.«
Crom machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Patrouillen werden nicht mehr nötig sein«, sagte er. »Unsere Gäste sind bereits angekommen. Wir brauchen nicht länger zu warten. Aber du hast recht - es ist kalt dort oben, und ein Becher heißen Weines wird ihm guttun. Außerdem ist es vielleicht besser, wenn wir diesen Satai zu viert bewachen, nachdem du doch so großen Respekt vor ihm hast.« Der spöttische Unterton in seiner Stimme klang nicht ganz überzeugend.
Er trat an die Leiter, nahm eine lange Holzstange, die griffbereit daneben an der Wand lehnte, und stieß mehrmals hintereinander wuchtig gegen die eiserne Klappe. »Du kannst herunterkommen!« rief er mit erhobener Stimme. »Deine Wache ist vorbei!« Die Schritte stockten für einen Moment, kamen dann eilig auf die Klappe zu und brachen erneut ab. Ein schmaler Streifen blutroten Lichts wurde sichtbar, als die Luke geöffnet wurde. Crom wandte sich von der Leiter ab und blieb neben Gowennas Lager stehen. »Und nun zu dir«, sagte er, während er sich herabbeugte und sie auf den Rücken drehte. »Du -«
Seine Stimme versagte, als er in das Gesicht unter der grauen Kapuze blickte. Für den Bruchteil einer Sekunde schien er starr vor Überraschung, aber diese winzige Zeitspanne genügte, ihn das Leben zu kosten. Gowenna schlug seine Hand mit dem Unterarm beiseite, fuhr hoch und stieß mit der anderen Hand zu. Der winzige, nadelspitze Dolch, den sie die ganze Zeit unbemerkt darin verborgen gehalten hatte, fuhr zielsicher durch den schmalen Spalt zwischen Harnisch und Helm Croms, bohrte sich in seinen Hals und tötete ihn auf der Stelle.
Sein Kamerad überlebte ihn nicht einmal eine Sekunde. Skar riß mit einer blitzschnellen Drehung die Handfesseln herunter, holte aus und schleuderte seinen Shuriken. Die Waffe verwandelte sich in ein flirrendes silbernes Rad, traf den Mann auf der Leiter im Nacken und ließ ihn mit einem krächzenden Schrei nach hinten kippen. Er war tot, noch bevor sein Körper auf dem Boden aufschlug.
Skar fuhr blitzartig herum, aber auch der dritte Wächter schien nicht einmal Zeit gefunden zu haben, wirklichen Schrecken zu empfinden. Er lag, in seltsam verkrümmter Haltung und mit weit geöffneten, starren Augen, zu El-tras Füßen, die Hände in einer erloschenen Bewegung, die er nicht mehr hatte zu Ende führen können, zu seinem gebrochenen Genick erhoben.
Skar atmete hörbar aus. Die Anspannung fiel plötzlich von ihm ab, seine Hände und Knie begannen zu zittern. Haltsuchend griff er hinter sich, bekam die Tischkante zu fassen und klammerte sich daran fest.
Die Tür ging auf, und der zweite Sumpfmann betrat den Turm.
»Was ist mit dem Wächter?« fragte Gowenna. Skar fand die Frage überflüssig, aber El-tra antwortete trotzdem darauf, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit.
»Er ist tot«, sagte er. »Oder jedenfalls bald.«
Skar runzelte die Stirn. »Was heißt das?«
El-tra-Ben grinste, deutete mit dem Zeigefinger auf den Boden zu seinen Füßen und wippte auf den Absätzen, als hole er Schwung für einen Sprung. »Er ist auf dem Weg nach unten«, sagte er.
9.
Der Krug war leer, aber Skar winkte ab, als Gowenna aufstehen und einen neuen Schlauch mit Wein aus dem Regal nehmen wollte. Er hatte zwei Becher des süßen, schweren Rotweines getrunken, und hinter seiner Stirn begann es bereits jetzt zu summen; der Wein war nicht gut, und das, was Skar im Moment am wenigsten gebrauchen konnte, war ein schwerer Kopf.
Sie waren nun eine Stunde in dem steinernen Turm, hatten die Toten weggeschafft, gegessen, getrunken und sich an dem flackernden Feuer im Kamin aufgewärmt. Das Mahl war einfach gewesen: trockenes, hartes Brot, ein Rest Schmalz, den sie in einer Holzschale auf dem Regal gefunden hatten, und für jeden eine Handvoll trockener Datteln. Trotzdem war es Skar - nach einer Woche, in der er von abgestandenem Wasser und scharfem Pferdefleisch gelebt hatte - wie ein Festmahl vorgekommen. Er war noch immer müde, und die Wärme im Inneren des Turmes tat ein übriges, seine Lider schwer werden zu lassen.
Gowenna stand nun doch auf, ging zum Regal und schenkte sich einen weiteren Becher Wein ein. Die Schwäche ließ ihre Hände zittern.
»Du solltest nicht so viel trinken«, sagte Skar halblaut. »Wir brauchen morgen einen klaren Kopf. Auch du.«
Gowenna lächelte, leerte den Becher mit einem Zug und schenkte ihn erneut voll. »Morgen ist morgen«, sagte sie leichthin. Sie kam zurück zum Tisch, setzte sich und sah mit einem sehnsüchtigen Blick zu den Betten hinüber. »Wer übernimmt die erste Wache?« sagte sie, ohne auf seine Worte einzugehen.
Skar wollte antworten, aber einer der El-tra - Verion - mischte sich ein. »Es wird nicht notwendig sein, Wachen aufzustellen«, sagte er, während er zu ihnen an den Tisch trat. »Die Männer bleiben jeweils eine Woche hier. Die Ablösung ist erst in drei Tagen fällig. Aber ihr werdet nicht schlafen können.«
Gowenna sah überrascht auf. »Wie meinst du das?«
»Wir können nicht hierbleiben«, fuhr El-tra fort. »Nicht für die nächsten Tage und nicht für diese Nacht.«
Skar schob sich eine weitere Dattel in den Mund. Er war längst satt, aber nach einer Woche voller Entbehrungen schrie sein Körper noch nach Nahrung. »Warum nicht?« fragte er kauend. »Dieser Ort ist nicht gut«, antwortete El-tra ernsthaft.
»Ihr wollt über die Brücke?« fragte Gowenna. »Jetzt?«
El-tra nickte.
»Aber ich sehe keinen vernünftigen Grund dazu«, sagte Skar. »Uns allen würde eine Nacht Schlaf und ein wenig Wärme guttun - euch auch.« Und der Gedanke, bei Dunkelheit über die halbzerfallene Brücke zu reiten, bereitete ihm Unbehagen. Selbst bei Tageslicht wäre es ein Wagnis gewesen, über die Schlucht zu reiten. Aber das sprach er nicht laut aus.
»Es gibt Gründe genug«, fuhr El-tra nach einer Weile fort. »Dieses Land ist nicht gut für uns. Wir sollten nicht länger hierbleiben als nötig. Und wir können nicht lange in diesen Körpern bleiben. Sie sind krank.«
Skar schwieg. Er wußte, wie wenig Sinn es hatte, mit den Sumpfmännern zu diskutieren, wenn sie einmal einen Entschluß gefaßt hatten. Er nickte resigniert, goß sich nun doch einen weiteren Becher Wein ein und trank einen Schluck, ehe er aufstand und zum Feuer hinüberging. Zum ersten Mal seit Wochen fror er nicht.
»Wie weit ist es bis zu Velas Lager?« fragte er.
»Dreißig Meilen. Weniger als einen Tagesritt.«
»Weniger als einen Tagesritt, so.« Er schüttelte den Kopf, seufzte und rieb die Hände über den Flammen aneinander. »Und wie kommen wir hinein? Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie uns mit offenen Armen empfängt.«
»Sicher nicht. Aber solange wir diese Körper tragen, wird es kein Problem werden. Zumindest nicht für uns.«
»Und wir?«
El-tra machte eine wegwerfende Handbewegung. Er hatte nicht nur den Körper Verions übernommen, sondern auch seine Gestik und seine Art zu reden. »Sie lebt in einer der alten Städte Tuans«, sagte er. »Ein Labyrinth, in dem selbst ihre hundert Krieger verschwinden können. Wir werden einen Weg finden, euch hineinzubringen. Aber wir können nicht warten, bis diese Körper zu schwach sind. Sie sterben.«