»Schneller!« schrie El-tra. Seine Worte klangen hoch und schrill, der Sturm verlieh ihnen einen zusätzlichen, unheilschwangeren Klang. Skar warf einen Blick über die Schulter zurück. Die Verfolger hatten am jenseitigen Rand der zerborstenen Stelle haltgemacht. Ihre Gestalten schienen hinter den wogenden Nebelschleiern zu tanzen, nur Tantors leuchtendroter Umhang schimmerte wie ein blutiges Juwel zu ihnen herüber. Keiner von ihnen machte Anstalten, sie zu verfolgen.
»Skar!« Tantors Stimme war kaum noch zu hören, obwohl er mit aller Kraft schrie. »Komm zurück! Ihr habt keine Chance!« Skar verzichtete auf eine Antwort. Er ritt für einen Moment langsamer und gab seinem Tier erneut die Sporen, als Gowenna und El-tra aufgeholt hatten. Sie hatten eine halbe Stunde gebraucht, um die Kluft das erste Mal zu überqueren; jetzt, auf dem Weg in die entgegengesetzte Richtung und in einem verzweifelten Wettlauf mit dem herantobenden Sturm, brauchten sie nicht einmal fünf Minuten.
Die Brücke bebte. Ein erster, machtvoller Hieb des Orkans ließ die gewaltige Eisenkonstruktion wie ein geschlagenes Tier vor Schmerz aufstöhnen, rüttelte mit Urgewalt an Pfeilern und Streben und schlug mit unsichtbaren Fäusten auf Skar und die anderen ein. Skar schrie erschrocken auf, aber der Sturm riß den Laut von seinen Lippen, so daß nicht einmal er selbst das Geräusch hörte.
Gowenna schrie etwas, das er nicht verstand, und deutete mit hektischen Bewegungen nach vorn. Skar hob den Kopf, blinzelte in die wirbelnden Schwaden aus Schnee und Eiskristallen und versuchte etwas zu erkennen. Seine Augen tränten, und die plötzliche Anstrengung ließ ihn seine gebrochenen Rippen wieder schmerzhaft spüren. Aber er sah, worauf ihn Gowenna aufmerksam machen wollte: Vor der dunklen Mauer des Sturmes erhoben sich zwei mächtige gedrungene schwarze Schatten. Das Wetterleuchten der Blitze spiegelte sich auf glänzendem Horn und reißenden Stacheln, die sechsfingrigen Hände, vorhin noch zu Fäusten geballt, waren jetzt ausgestreckt und zu tödlichen Klauen verkrümmt. Die schwarzen Giganten waren zum Leben erwacht!
Alles schien gleichzeitig zu geschehen - ein hoher, knisternder Laut, ein Geräusch, als zerbreche irgendwo eine gewaltige Eisscholle unter dem Griff einer Titanenhand, ließ das Heulen des Orkans für eine Sekunde verstummen. Skars Pferd bäumte sich auf, stieg, mitten im Galopp, auf die Hinterläufe und schleuderte ihn aus dem Sattel, gleichzeitig kreischten Gowennas und El-tras Tiere wie unter unerträglichem Schmerz, brachen nach rechts und links aus und warfen auch ihre Reiter ab. Die schwarzen Giganten kamen näher, mit einer Leichtfüßigkeit, die ihrem plumpen Äußeren Hohn sprach, drangen mit weit ausgebreiteten, tödlichen Krallenhänden auf Skar und die anderen ein, in ihrem Gefolge Sturm und Chaos bringend. Skar prallte schmerzhaft auf dem eisernen Boden auf, rollte sich instinktiv zu einem Ball zusammen und kam, den Schwung seines Sturzes ausnutzend, wieder auf die Füße. Vor seinen Augen wirbelten Schnee und Schwärze, durchzogen von blitzenden roten Fäden aus Schmerz; er ahnte den schwarzen Giganten mehr, als er ihn sah. Und in ihm erwachte etwas. Die Entwicklung war abgeschlossen. Die Puppe brach auf und gebar etwas Dunkles, Grauenhaftes.
Er wich zurück, prallte gegen das brusthohe Geländer der Brücke und sah sich verzweifelt nach Gowenna und den anderen um. Einer der Sumpfmänner kam dicht neben ihm auf die Füße; nicht mehr länger Verion oder Bren, sondern wieder ein Mann aus Cosh mit flinken Bewegungen und einem Schattengesicht; Gowenna und der zweite Sumpfmann waren irgendwo im Sturm verschwunden. Skar konnte nur hoffen, daß sie den Sturz unverletzt überstanden hatten.
»Skar! Vorsicht!«
El-tras Schrei ließ ihn herumfahren. Etwas Schwarzes, Gigantisches wuchs vor ihm empor, griff mit schrecklichen Händen nach ihm und verfehlte ihn, als er sich blitzschnell zur Seite kippen ließ. El-tra stieß einen gellenden Kampfschrei aus, setzte über ihn hinweg und warf sich dem Panzerriesen entgegen. Sein Schwert blitzte auf, zerschnitt den wirbelnden Schnee und prallte mit ungeheurer Wucht gegen den Helm des Giganten.
Skar wartete den Erfolg von El-tras Angriff nicht ab. Noch während er fiel, riß er sein Tschekal aus dem Gürtel, packte die Klinge mit beiden Händen und hieb nach den Füßen des Riesen. Es gab einen Laut, als hätte er gegen Stahl geschlagen. Das Tschekal sprang zurück, wurde ihm aus der Hand geprellt und verschwand klappernd in der Dunkelheit. Ein lähmender Schmerz schoß durch seine Hände. Er stemmte sich hoch, fiel mit einem Schmerzenslaut erneut auf die Knie und stürzte vollends, als seine Handgelenke unter dem Gewicht seines Körpers nachgaben. Einen Moment war er gelähmt vor Schmerzen und Überraschung, aber die Schwäche verging so schnell, wie sie gekommen war. Er sprang auf, brachte sich mit einem verzweifelten Satz vor den zuschnappenden Klauen des Riesen in Sicherheit und suchte nach seinem Schwert. Aber als ob sich nun auch noch die Elemente gegen sie verschworen hätten, brüllte der Sturm plötzlich mit doppelter Macht los, riß ihn erneut von den Beinen und trieb ihn von dem Panzerriesen, aber auch von der Stelle, an der seine Waffe liegen mußte, fort. Wieder stürzte er, und diesmal war der Aufprall so hart, daß er sekundenlang benommen liegenblieb. In seinem Inneren war ein Schrei, ein stummes, wortloses Lachen, die Stimme seines Dunklen Bruders, der endlich wieder aus seinem Schlaf erwacht war.
Aber es war nur dieser Schrei, mehr nicht. Der Strom von Kraft, von Wildheit und Energie, auf den er jetzt zum ersten Mal, seit er Bekanntschaft mit der furchtbaren Macht, die in ihm schlummerte, gewartet hatte, blieb aus. Er spürte ihn, fühlte die Anwesenheit seines Dunklen Bruders wie einen lautlosen Zwilling, der in ihm, hinter und neben seinen Gedanken war, lauerte, aber es war keine Verbindung zwischen ihnen, sie schienen nichts als zwei verschiedene, grundverschiedene Wesen zu sein, die sich nur durch Zufall den gleichen Körper teilten. Er fühlte sich im Gegenteil mit einem Mal kraftlos - nein, nicht kraftlos - gebunden, als lägen plötzlich zentnerschwere unsichtbare Ketten auf seinen Gliedern. Das Monstrum in ihm war wieder da, aber diesmal lähmte es ihn. Trotzdem stand er auf, warf sich noch einmal in den kreischenden Wind und eilte auf den Alptraumkrieger zu. Er kam gerade noch zurecht, um zu sehen, wie El-tra unter einem fast spielerischen Hieb des Titanen zusammenbrach.
»Skar! Gib auf! Gib auf, oder der Sumpfmann stirbt.«
Wieder verstummte der Sturm für Sekunden. Die wirbelnden weißen Schwaden rissen auf, und hinter dem schwarzen Panzerriesen, hinter und neben ihm, wie ein Kind, das ängstlich die Nähe eines Erwachsenen sucht, dies aber nicht zugeben will, erschien eine kaum metergroße rotgekleidete Gestalt.
Skar erstarrte mitten in der Bewegung. El-tra lag reglos vor den Füßen des schwarzen Titanen, und etwas sagte Skar, daß Tantor diesmal keine leere Drohung ausstieß, daß seine Worte bitter ernst gemeint waren und er nicht zögern würde, die Bestie auf El-tra loszulassen. Seine Hände sanken kraftlos herab.
»Du hast gewonnen«, sagte er. »Ich gebe auf.«
Tantor nickte. »Das ist vernünftig von dir. Ich will deinen Tod nicht, Skar, das solltest du wissen. Aber ich werde nicht zögern -«
»Red dir keine Blasen an die Zunge«, unterbrach ihn Skar grob. »Was willst du?«
In Tantors Augen erschien ein amüsiertes Glitzern. »Noch immer der alte Satai, wie? Gleich zur Sache, ohne Umschweife.« Er schüttelte den Kopf, trat - noch immer zögernd - hinter der fast dreimal so großen schwarzen Höllenkreatur hervor und deutete über die Schlucht.