Seine Attacke auf Tantor war nichts als eine Reaktion darauf gewesen, ein stummer optischer Schrei der Hilflosigkeit und Wut. Es kostete ihn unendliche Mühe, seinen Blick von der Gestalt am Fuß der Rampe zu lösen und sich im Sattel herumzudrehen. Er hatte während des gesamten Rittes wenig mehr als einen flüchtigen Blick auf Gowenna oder die beiden Sumpfleute erhäschen können, und selbst jetzt noch ritt zwischen ihm und Gowenna fast ein Dutzend Krieger. Er konnte Gowennas Gesicht nicht erkennen, aber er sah, daß sie müde und weit nach vorn gebeugt im Sattel hockte und offenbar alle Mühe hatte, sich überhaupt noch aufrechtzuhalten.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Tantor, als er seinen Blick bemerkte. »Ihr geschieht nichts. Und auch diesen beiden Schlammfressern nichts - solange du vernünftig bist und tust, was man von dir verlangt, versteht sich.«
Skar drehte sich wieder herum, sah zuerst Tantor, dann Del, und dann wieder den Zwerg an. Er sprach kein Wort, aber etwas in seinem Blick brachte Tantor dazu, sein Pferd ein wenig weiter zur Seite zu lenken, obgleich er dadurch dem Abgrund bedrohlich nahe kam.
Sie erreichten den Fuß der Rampe, und die Krieger, die bisher vor und hinter Skar geritten waren, bildeten einen weit auseinandergezogenen Kreis um ihn herum. Gowenna und El-tra blieben weiter im Hintergrund.
In Skars Mund machte sich ein übler Geschmack breit. Er war plötzlich ruhig, ganz ruhig, aber es war keine entspannende Ruhe, sondern jene angespannte Gelassenheit, die ihn normalerweise vor einem Kampf überkam - seine Nerven schienen wie Stahlsaiten zum Zerreißen angespannt, und er sah plötzlich jedes noch so winzige Detail seiner Umgebung mit übernatürlicher Klarheit. Die Reihe der Reiter vor ihm teilte sich, und Del trat, flankiert von seinen vier Begleitern, in den Kreis.
Mit raschen Schritten näherte er sich Skar, blieb dicht vor ihm stehen und machte eine Bewegung mit der Linken. »Steig ab.« Skar fuhr beim Klang seiner Stimme zusammen, als hätte er einen Schlag erhalten. Sein Blick saugte sich an Dels Gesicht fest, und was er sah, war schlimmer als alles, was er erwartet hatte. »Del«, keuchte er stockend, »du -«
»Steig ab, Skar«, unterbrach ihn Del hart. »Reden können wir später. Vela erwartet dich.«
Skar blieb noch sekundenlang reglos sitzen, ehe er - langsam und umständlich wie ein alter Mann - aus dem Sattel stieg und neben dem Pferd stehenblieb. Für lange Sekunden kreuzten sich ihre Blicke, und was Skar in den dunklen Augen des anderen sah, war Leben. Er hätte es ertragen - hatte es sogar erwartet -, Del als seelenlose Puppe vorzufinden, als eine Marionette gleich den Kriegern, die sie getötet hatten oder ihren Wächtern. Aber es war nicht so. Was immer mit Del geschehen war - es war kein Bann, kein Zauber oder wie immer man es nennen wollte. Plötzlich, ohne daß es einer Erklärung oder eines sichtlichen Grundes bedurft hätte, wußte Skar, daß Del alles, was er tat, freiwillig tat. Er stand unter Velas Bann, sicher, aber es war ein Bann anderer Art, als Skar erwartet hatte. Sie hatte ihn nicht gezwungen, mit ihm zu kämpfen, begriff er plötzlich. Er hatte es aus freien Stücken getan, allein der Gedanke erschien Skar so wahnwitzig, daß er am liebsten laut aufgelacht hätte.
»Hallo Del«, murmelte er. »Es ist lange her, daß wir uns gesehen haben.« Seine Stimme klang belegt, fremd in seinen eigenen Ohren.
In Dels Gesicht zuckte ein Muskel. Seine unverletzte Linke glitt mit einer kleinen nervösen Bewegung an seinem Umhang herab und umklammerte den Griff des Schwertes durch den Stoff hindurch. Sein Blick flackerte. Er drehte mit einem Ruck den Kopf, sah für die Dauer von drei, vier Atemzügen weg und wandte sich dann übertrieben hastig um. »Komm mit«, sagte er. »Du wirst alles erfahren.«
Skar rührte sich nicht. »Ich glaube, ich weiß schon zuviel, Del«, sagte er leise.
Del blieb stehen, sah ihn unsicher, aber auch trotzig und mit einem Ausdruck, der Skar fast wie Mitleid vorkam, an und schüttelte den Kopf. »Du weißt nichts, Skar«, sagte er rauh. »Es ist zuviel geschehen, seit wir uns getrennt haben. Du bist nicht mehr der Mann, den ich kannte.«
Skar lachte leise. »Du auch nicht, Del.«
»Nun, dann haben wir wenigstens noch eines gemeinsam. Komm jetzt.« Diesmal klang Dels Stimme hörbar ungeduldig, aber Skar rührte sich noch immer nicht.
»Was geschieht mit Gowenna und den beiden Sumpfmännern?« fragte er.
Del machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mach dir keine Sorgen. Sie werden Nahrung und einen Platz zum Ausruhen bekommen. Was weiter geschieht, hängt von dir ab.«
»Du machst noch immer keine Umwege, wie?« fragte Skar. »Wenn ich nicht so handele, wie ihr wollt, dann tötet ihr sie.«
»Vielleicht«, sagte Del kalt. »Aber wenn es dir lieber ist, daß ich dich belüge, dann sag es. Und nun komm - bitte.«
Skar nickte, warf Tantor einen letzten, bitteren Blick zu und ging hinter Del her. Die Reihe der Krieger teilte sich vor ihnen. Ihre Eskorte blieb - einschließlich des Zwerges - zurück, und nur die vier Krieger, die zusammen mit Del hier unten auf sie gewartet hatten, begleiteten sie. Sie überquerten den Kratergrund und stiegen über eine schräge, aus Schutt aufgeschüttete und sorgfältig mit Sand geglättete Rampe zu einem der Eingänge hinauf.
Der Gang war von unzähligen Fackeln taghell erleuchtet. Ein frischer, kühler Luftzug schlug Skar entgegen, als er hinter Del gebückt durch den niedrigen Eingang trat. Der Weg führte in sanfter Neigung in die Tiefe, und ein paarmal durchquerten sie hohe, verschieden geformte Hallen und Räume, winzige Ausschnitte des unendlichen Labyrinths, das hier unten liegen mußte.
Skars Verwirrung wuchs, während er Del tiefer in den Irrgarten aus steinernen Gängen und Arkaden folgte. Die Architektur der Räume war nicht menschlich, sie glich nichts, was er je gesehen hatte. Die Gänge waren verschieden hoch und breit, jeder anders geformt, und an den Wänden prangten Bilder oder jedenfalls etwas, das er für Bilder hielt. Es gab bizarre Dinge, deren Bestimmung er nicht einmal erraten konnte, dann wieder Treppen, die scheinbar vollkommen sinnlos nach oben oder unten führten, manchmal gar vor massiven Wänden oder nach wenigen Stufen einfach in der Luft endeten. Und doch kam ihm all dies bekannt vor. Er hatte das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein, Dinge, die er nie zuvor gesehen hatte, genau zu kennen; das Gefühl von etwas Vertrautem, ja, beinahe Heimeligem.
Nach einer Weile blieb Del stehen. Sie waren vor einer hohen, aus zwei ungleichmäßigen Flügeln zusammengesetzten Tür angekommen, zu der eine Anzahl schräger Stufen hinaufführte. Auf dem kleineren der Türflügel prangte ein Symbol, das Skar vage an eine geballte Faust erinnerte, die einen Blitz umklammerte. Aber es konnte auch etwas vollkommen anderes sein.
»Ihr könnt gehen«, sagte Del, zu den Kriegern gewandt, die sie bis hierher begleitet hatten. Die Männer drehten sich gehorsam um und gingen, aber Del wartete auch als sie den Raum verlassen hatten noch, bis ihre Schritte nicht mehr zu hören waren.
Skar lächelte dünn. »Ich nehme an, deine Herrin erwartet uns hinter dieser Tür«, sagte er.
Dels Gesicht blieb ausdruckslos, wie aus Stein gemeißelt. Er trat an die Tür, öffnete sie mit einem Mechanismus, den Skar nicht erkannte, und machte eine einladende Handbewegung. Skar trat zögernd an ihm vorbei.
Der Anblick traf ihn wie eine Ohrfeige.
Der Raum hinter der Tür war kein Raum, sondern streng genommen nur ein vergleichsweise schmaler, sichelförmiger Sims, hinter dem sich eine gewaltige, bodenlose Höhle erstreckte. Ihre gegenüberliegende Wand verlor sich in wogender Weite; Nebel stieg in dünnen, geisterfingrigen Schwaden aus ihrer Tiefe empor und kroch über den Rand des Simses. Aber davon sah Skar kaum etwas. Auch nicht von der schlanken, weißgekleideten Frauengestalt, die am Rand des Abgrundes stand und ihm und Del, der die Tür hinter ihm schloß und sich neben ihm aufbaute, entgegensah. Sein Blick saugte sich an dem schwarzen Gewebe fest, das die Höhle wie klebrige Spinnfäden durchzog; ein Netz aus straff gespannten, miteinander verwobenen Fäden, stark wie ein Männerarm und schwarz, ein Schwarz, das Skar in dieser Tiefe erst einmal gesehen hatte, langgestreckt, organische, verquollene Formen, die sich wie Teer, der zu Fäden gezogen und dann erstarrt war, durch die Weite der Höhle zogen, hier und da zu Knoten und mächtigen pulsierenden Klumpen zusammengewachsen, lebend, lebend, lebend...