13.
Vela erwartete ihn im Innenhof der unterirdischen Festung, dem Boden des Kraters, durch den sie das Labyrinth betreten hatten. Skar blinzelte ein paarmal, als er nach zwei Tagen wieder ins Freie trat und zum ersten Mal wieder das Licht der Sonne sah. Er hörte Geräusche und spürte, daß er von zahlreichen Menschen umgeben sein mußte, sah aber im ersten Moment nichts außer verschwommenen Schleiern und Schatten. Es dauerte Minuten, bis sich seine Augen wieder an das grellrote, gnadenlose Licht der Sonne gewöhnt hatten und er wieder klar sehen konnte.
Der Krater war nicht mehr leer wie beim ersten Mal, als er ihn betreten hatte. Sie waren auf einem Segment der Rampe herausgekommen, das vielleicht zwanzig Fuß über dem eigentlichen Kraterboden lag, und neben, über und unter ihm befand sich eine große Anzahl von Kriegern; an die hundert, schätze er nach einem kurzen Rundblick. Wenig, wenn man die Zahl hört und in Dimensionen von Heeren und Armeen zu denken gewohnt ist; und doch beeindruckend viel, wenn man sie vor sich sieht; einhundert stumme, schwarz gekleidete Krieger, keiner weniger als sechs Fuß groß und jeder eine zum Töten abgerichtete Kampfmaschine. Genug, ein Königreich zu erobern, dachte Skar. Oder die Welt.
Del berührte ihn am Arm und wies in den Krater hinab. Vela war am Fuß des Schuttberges, der einen wesentlichen Teil des Innenraumes ausfüllte, erschienen. Sie trug das gleiche weiße Kleid, in dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte, und in ihrem Haar schimmerten Juwelen. An ihrer Seite hing etwas Kleines, Blitzendes.
Und hinter ihr hockte der Drache.
Im ersten Moment hatte Skar das Tier vor dem zerklüfteten Gebirge aus Stein- und Glastrümmern nicht gesehen. Der Körper der Bestie war grau, ein Alptraum aus Panzerplatten und gestaltgewordenem Schrecken, aber seine Konturen schienen beständig zu zerfließen, hierhin und dorthin zu wogen und wie Nebel zu wallen, so daß es Skar schwerfiel, seine genauen Umrisse auszumachen. Mimikri, dachte er, die perfekteste Tarnung, die er jemals - vielleicht mit Ausnahme der Sumpfleute - erlebt hatte. Die Haut des Ungeheuers schien zu leben, und wenn es auch in Wirklichkeit nur die Schattierungen und Grautöne seines Panzers waren, die sich beständig veränderten, auf jeden Schatten, jeden einfallenden Lichtstrahl reagierten, so täuschten sie Skars Auge selbst jetzt noch nachhaltig. Das Tier war gewaltig. Sein Gewicht mußte das eines Walfisches übersteigen, und sein häßlicher, dreieckiger Schädel pendelte zwanzig, fünfundzwanzig Fuß über seiner Herrin. Im ersten Moment dachte Skar, das Tier schliefe, aber als er näher kam, fing er einen Blick der lächerlich kleinen, tückischen roten Augen der Bestie auf.
Das Monstrum ruhte, aber es schlief nicht. Wie das Land, das es geboren hatte, lag es beständig auf der Lauer, bereit, unvermittelt loszubrechen und den Tod oder Schlimmeres zu bringen. Ein scharfer Geruch nach Säure und Tod wehte zu Skar herüber, und für einen winzigen Moment sah er Gowennas verätztes Gesicht vor sich.
Vela beendete ihre Unterhaltung mit Tantor, als Del und er näher kamen. Sie wandte sich ihm zu, scheuchte die Krieger, die in ihrer unmittelbaren Nähe standen, beiseite und trat dann mit einer genau überlegten Bewegung neben Del.
»Ich sehe, du hast dich erholt«, begann sie. »Verzeih, wenn deine Unterbringung nicht allzu bequem war. Aber wir sind hier nicht auf Besuch eingerichtet.«
»Die drei Tage sind noch nicht um«, sagte Skar. Plötzlich wollte er nichts als weg hier. Selbst der Gedanke an das finstere, feuchte Verließ und die Angst, die in ihm lauerte, erschien ihm nicht so schrecklich wie die Gegenwart Velas und ihrer Bestie.
»Selbstverständlich nicht«, sagte Vela. »Aber es ist... etwas geschehen, das mich bewegen hat, meine Pläne zu ändern. Wir werden diesen Ort verlassen, noch heute. Ich würde es begrüßen, deine Entscheidung vorher zu wissen.«
»Du kennst sie«, antwortete Skar. »Ich bin nicht Del. Du kannst mich in Stücke schneiden, wenn du willst, aber ich werde nie vor dir kriechen.«
Vela lächelte, aber es war ein Lächeln, das Skar einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. »Da wäre ich an deiner Stelle nicht so sicher«, sagte sie freundlich. »Aber bitte - ich habe dir drei Tage Bedenkzeit versprochen, und ich halte mein Wort. Der Weg nach Elay ist weit. Du hast noch Zeit genug, dir deine Entscheidung zu überlegen. Du -«
»Was ist mit Gowenna?« unterbrach Skar sie.
»Was soll mit ihr sein? Sie lebt. Noch.«
»Ich will sie sehen«, verlangte Skar. »Sie und die beiden Sumpfmänner.«
»Jetzt?«
»Jetzt«, bestätigte Skar. »Vorher sage ich kein Wort.«
Vela seufzte. »Wie edel! Der große Satai besinnt sich auf seine Rolle als Rächer der Hilflosen und Schwachen, wie? Aber wie du willst.« Sie gab Tantor einen Wink und fuhr, ohne sich zu dem Zwerg umzuwenden, fort: »Wir werden dicht an der Grenze zu Cosh vorüberkommen, wenn wir Tuan verlassen. Wenn du willst, lasse ich die beiden Sumpfmänner frei. Ich habe keine Verwendung mehr für sie.«
»Warum bringst du sie dann nicht um?« fragte Skar böse. Vela überging die Beleidigung, ohne mit der Wimper zu zucken. »Es scheint dir Freude zu bereiten, mich für eine Mörderin zu halten«, sagte sie ruhig. »Aber ich bin keine. Ich töte nicht ohne Notwendigkeit.«
Skar starrte sie finster an. »O verzeih, ich vergaß. Du tötest nicht, du läßt töten. Aber der Unterschied ist nicht so groß, wie du denkst. Vielleicht klebt an meinen Händen mehr Blut als an deinen, aber ich habe niemals Männer um eines grausamen Effektes willen in den sicheren Tod geschickt.«
»Du meinst die Wächter der Brücke?« Vela machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ja, ich erinnere mich - Tantor erzählte mir, daß du es für Mord hieltest.«
»Und wofür hältst du es?«
Der Drache knurrte; ein tiefer, grollender Laut, der den Boden unter seinen Füßen vibrieren ließ. Der gewaltige Schlangenhals senkte sich mit einer fließenden, raschelnden Bewegung, und der Blick seiner tückischen Augen richtete sich auf Skar, der unwillkürlich einen halben Schritt zurückwich.
»Du kennst diese Männer nicht«, antwortete Vela. »Ich habe jeden einzelnen meiner Krieger sorgsam ausgesucht. Es ist nicht einer unter ihnen, der nicht mindestens einen Mord begangen hätte. Sie sehen vielleicht aus wie Menschen, Skar, aber sie sind keine. Sie sind Dreck, Abschaum, für den der Tod noch zu schade ist. Ich habe die meisten aus Gefängnissen oder vom Strick freigekauft. Was spielt es für eine Rolle, wenn sie sterben?«
Skar resignierte. Es hatte keinen Sinn, mit Vela zu reden, nicht über dieses Thema und nicht jetzt. Sie sprachen zwei verschiedene Sprachen, und dort, wo sie sich vielleicht verstehen konnten, wollten sie es nicht. Er senkte müde den Kopf, drehte sich halb um und sah an Vela vorbei an der Kraterwand hinauf. Vela hatte so laut gesprochen, daß zumindest ein großer Teil der Krieger ihre Worte verstanden haben mußte. Aber keiner von ihnen zeigte auch nur die mindeste Reaktion.
»Wohin«, fragte er nach einer Weile, »gehen wir von hier aus?«
»Nach Elay«, antwortete Vela. »Auf dem direkten Weg - an Cosh vorbei, um das Gebirge herum und dann nach Norden.«
»Ein weiter Weg.«
»Wir haben Zeit. Ich habe ein Jahrzehnt gewartet - was machen da ein paar Monate für einen Unterschied?« Sie lachte, trat zu ihrem Drachen und schlug ihm wuchtig mehrmals hintereinander mit der flachen Hand an die Seite. Es klang, als hätte sie gegen Stahl geschlagen. Das Tier knurrte zufrieden, obwohl es die Berührung kaum gespürt haben konnte. Der Schädel auf dem unmöglich langen Schlangenhals beugte sich zu der Errish herab; das Maul klaffte auf. Ein scharfer, beißender Gestank wehte hinter seinen Sichelzähnen hervor. Seine Zunge, gespalten wie die einer Schlange und lang wie ein Männerarm, tastete nach Velas Gesicht, berührte es aber nicht.
»Siehst du, Skar«, sagte Vela im Plauderton. »Das ist Macht.« Sie schlug noch einmal mit der Faust gegen die grauen Schuppen des Ungeheuers, drehte sich um und lehnte sich lässig gegen die Flanke des Drachen. »Wie würde es dir gefallen, ein solches Ungeheuer zu beherrschen?«