»Aber warum?« murmelte Skar. »Weil du dich ihr widersetzt hast? Aus Grausamkeit?«
Gowenna schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, sie ... sie hat es nur getan, um ... um dich zu treffen, Skar. Die Schläge galten dir, nicht mir.«
Skar senkte betroffen den Blick. Gowenna hatte nur ausgesprochen, was er schon lange gewußt hatte. Alles, was Vela inszenierte, diente nur einem einzigen Zweck: ihn zu quälen, seinen Haß zu wecken. Und er verstand auch, warum. Es war nicht er, dessen Hilfe sie brauchte. Er, Skar, war nur eine leere Hülle, der sie nicht mehr als Gleichgültigkeit entgegenbrachte. Sie wollte das Ding in seinem Inneren. Sein Dunkler Bruder war es, dessen Hilfe, dessen Macht sie brauchte, dieses Ungeheuer in ihm, das aus Haß geschaffen und nur durch Haß geweckt werden konnte. Sie hatte es einmal geweckt - versehentlich - und jetzt versuchte sie es wieder, aber diesmal, um es zu benutzen, sich seiner Macht zu bedienen. Und sie würde es schaffen. Irgendwann. Noch war er stark genug zu widerstehen, aber sie würde ihn weiter quälen, ihn erniedrigen und foltern, ihm seine eigene Hilflosigkeit so lange vor Augen führen, bis er aufgab, bis dieses Monstrum in ihm erneut und diesmal vielleicht endgültig erwachte. In einer blitzartigen Vision sah er sich selbst, hoch aufgerichtet und mit weit ausgebreiteten Armen, das Gesicht vor Qual verzerrt, hörte seinen eigenen, unmenschlichen Todesschrei, das ekelhafte Geräusch, mit dem seine Haut riß, sein Körper auseinanderklaffte wie ein trockener Kokon und ein neues, aus schwarzem Horn und Wildheit geborenes Wesen hervorbrach, den alten Skar vernichtend, zermalmend wie der Sturm ein trockenes Blatt...
»Was will sie von dir, Skar?« fragte Gowenna leise.
Skar schüttelte den Kopf. »Nichts. Zumindest nichts, woran ich sie hindern könnte.« Er lachte; es war ein bitteres, metallisches Geräusch, das an den feuchten Wänden spöttische kleine Echos hervorrief.
Du hast verloren, Skar, wisperte eine Stimme in ihm, aber er wußte, daß es nicht wirklich sein Dunkler Bruder, sondern nur die Stimme seiner Einbildung war, etwas, das er hörte, weil er es hören wollte. Der Kreis schließt sich. Du bist mit dem Gift in Berührung gekommen, als du die Höhlen unter der Nonakesh betreten hast, aber es wirkt langsam.
»Wer bist du, Skar?« fragte Gowenna.
»Wer ich bin?« Skar schwieg einen Moment. »Ich wollte, ich wüßte es. Ich weiß nur, daß ich nicht tun werde, was sie von mir verlangt.«
»Doch, Skar«, widersprach Gowenna. »Das wirst du. Du willst es nicht, aber du wirst es tun. Man kann dieser Frau nicht widerstehen. Niemand kann es.«
Diesmal antwortete Skar nicht.
Erneut senkte sich Schweigen über sie, eine Stille ganz besonderer Art, jene Stille, in der man schreien, toben, irgend etwas tun will, es aber nicht kann. Wie in einem Alptraum, in dem man dazu verdammt ist, zuzusehen, alles mit sich geschehen zu lassen, hockte Skar da und war sich seiner Hilflosigkeit bewußt. Und er spürte, wie das dünne Gefühl von Haß in seinem Inneren wuchs, wie der Panzer aus Willenskraft und Selbstbeherrschung, den er über die Abgründe seiner Seele gestülpt hatte, brüchig wurde. Noch hielt er, aber Skar spürte bereits, wie das furchtbare Ding in ihm kräftiger wurde.
An der Tür entstand ein Geräusch. Der Riegel wurde zurückgeschoben. Ein schmaler Lichtstreifen fiel in die Zelle, dann huschte eine gebückte, zwergenhafte Gestalt zu ihnen herein.
Skar musterte den Zwerg kalt. »Was willst du?« fragte er. »Schickt dich Vela?«
Tantor zog hastig die Tür hinter sich zu, eilte zu ihnen herüber und ließ sich vor Skar auf die Knie sinken. »Hör jetzt auf«, zischte er leise, als hätte er selbst hier drinnen Angst, belauscht zu werden. »Wir haben nicht viel Zeit. Hört mir zu.«
Skar verzog spöttisch die Lippen. »Du kannst ruhig laut reden«, sagte er abfällig. »Vela weiß alles. Sie weiß, daß du mich« - er betonte die Worte auf ganz eigene Art - »ins Vertrauen gezogen hast.«
Tantor schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ich weiß«, sagte er gehetzt. »Und deshalb bin ich hier. Ihr müßt fort!«
»Sicher«, sagte Skar. »In einer Stunde, oder -«
»Unsinn«, unterbrach ihn Tantor. »Ihr müßt fliehen, Skar. Aus dieser Festung gibt es kein Entrinnen, aber auf dem Weg nach Cosh wird sich eine Gelegenheit bieten.«
Skar schwieg, doch Tantor schien seinen Blick richtig zu deuten. »Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte er. »Aber so, wie die Dinge liegen, hast du gar keine andere Wahl, als mir zu vertrauen. Ich helfe euch.«
»Du?« fragte Skar überrascht. »Du willst uns helfen? Warum denn?«
»Du kennst die Gründe.« Tantor sprach schnell, gehetzt. Sein Blick irrte immer wieder zur Tür, und seine Hände vollführten kleine nervöse Bewegungen unter seinem Cape. »Sie ist wahnsinnig. Und sie wird erreichen, was sie will, wenn du länger in ihrer Nähe bist, Skar. Ich weiß nicht, wie du es hältst, aber ich will nicht sterben, und ich will auch nicht zu einem lebenden Toten werden wie ihre Krieger. Sie ... sie weiß, daß ich sie hintergangen habe, und sie wird mich dafür bestrafen. Wenn du länger in ihrer Nähe bist, wird ihre Macht ins Unermeßliche steigen.«
»Und wie soll das vonstatten gehen?«
»Laßt das meine Sorge sein«, antwortete Tantor. »Ich war bereits bei den Sumpfleuten und habe sie über meinen Plan informiert. Er ist riskant, aber wir haben nichts zu verlieren.«
Gowenna setzte sich mühsam auf. »Und welche Bedingung knüpfst du daran?« fragte sie. Ihre Stimme klang plötzlich ganz ruhig, aber Skar entging der angespannte Unterton in ihren Worten nicht.
»Nur eine«, sagte Tantor. »Ihr nehmt mich mit. Allem wird es keinem von uns gelingen, zu entkommen. Zusammen haben wir eine Chance.«
Skar nickte. »Dein Vorschlag hört sich gut an. Aber er hat einen Fehler - ich traue dir nicht.«
Tantor lachte. »Das ist dein Problem, Skar. Aber ich wüßte nicht, was du verlieren könntest - außer deinem Leben. Und glaube mir - wenn du bei Vela bleibst, wirst du bald nach dem Tod schreien.« Er zögerte, griff unter sein Cape und drückte Skar einen flachen Lederbeutel in die Hand. »Nimm das«, sagte er, »und versteck es gut. Sie wird dich in Ketten legen lassen. Wenn ich dir das Zeichen gebe, streust du den Inhalt auf das Metall und zählst bis hundert. Danach wird das Eisen für kurze Zeit brüchig werden, so daß du die Ketten sprengen kannst.«
Skar drehte den Beutel mißtrauisch in den Händen. »Was ist das?« fragte er. »Wieder eines von deinen Zaubermitteln?«
»Ich bin sowenig Zauberer wie du«, knurrte Tantor. »Ich verstehe nur ein wenig mehr vom Aufbau der Dinge. Und jetzt frag nicht weiter. Ich muß weg.«
Er wollte aufstehen und gehen, aber Skar hielt ihn mit einem raschen Griff am Umhang zurück.
»Auf ein Wort noch, Tantor«, sagte er.
Der Gnom knurrte ungeduldig und versuchte sein Cape loszureißen, aber Skar hielt weiter fest. Der Stoff ächzte hörbar. »Was?«
»Was geschieht, wenn unsere Flucht fehlschlägt - falls wir uns entschließen, zu flüchten?«
»Was soll geschehen? Sie wird uns alle töten. Mit Ausnahme von dir, vielleicht.«
»Und trotzdem hilfst du uns?«
»Quatsch«, sagte Tantor. »Ich helfe mir, Satai. Ich will weg von ihr, aber allein habe ich keine Chance. Der einzige Grund, aus dem ich euch helfe, ist, weil ihr mir helfen müßt. Ihre Krieger würden mich fassen, lange bevor ich irgendeine Stadt oder einen anderen sicheren Ort erreichen könnte. Die einzige Sicherheit im Umkreis von hundert Tagesritten bilden die Sümpfe von Cosh. Und ohne die beiden Sumpfbrüder hätte ich wohl keine große Aussicht, sie lebend zu durchqueren. Und die gehen nun einmal nicht ohne euch. Und jetzt laß los!«