Skar schüttelte abermals den Kopf. »Noch eine Frage, Tantor«, sagte er. »Warum dieser plötzliche Aufbruch?«
»Es ist kein Aufbruch«, murmelte Tantor. »Sie flieht.«
»Flieht?« wiederholte Skar verblüfft. »Vela flieht? Vor wem?«
»Das weiß ich sowenig wie du, Skar«, antwortete Tantor. »Doch bei Sonnenaufgang kam eine unserer Patrouillen zurück. Sie waren zu sechst, als sie aufbrachen, und nur zwei kehrten zurück. Ich weiß nicht, welche Kunde sie brachten - Vela ließ sie sofort zu sich bringen, und seither sind sie verschwunden. Aber kurz darauf begann sie mit den Vorbereitungen für den Abmarsch.«
»Vela flieht...«, wiederholte Skar nachdenklich. »Aber vor...«
»Vielleicht vor diesen Kreaturen, auf die wir unterwegs gestoßen sind«, vermutete Gowenna.
Tantor riß sein Cape nun endgültig los und wich mit zwei schnellen Schritten zur Tür zurück. »Wohl kaum«, sagte er. »Ich weiß sowenig wie ihr, welcher Gegner fähig sein sollte, Vela und ihrem Drachen Angst einzujagen. Und ich hoffe bei allen Göttern, die die Menschen Enwors jemals angebetet haben, daß ich es niemals herausfinde.« Damit wandte er sich endgültig um und verließ die Zelle. Der Riegel rastete ein, und die Schritte des Zwerges verklangen draußen auf dem Gang.
Skar drehte den Lederbeutel, den ihm Tantor gegeben hatte, unentschlossen in der Hand. Nach einer Weile kroch er - ohne sich die Mühe zu machen, für die drei Schritte aufzustehen - auf Händen und Knien zu Gowenna zurück.
»Was hältst du davon?« fragte er.
»Wovon? Von Velas Flucht oder von Tantors Angebot?«
»Von beidem«, murmelte Skar. »Mir erscheint das eine so unglaubhaft wie das andere.«
»Ich glaube nicht, daß es eine Rolle spielt, was ich oder du davon halten«, antwortete sie. »In einem hat Tantor recht - wir haben nichts zu verlieren. Vielleicht ist es ein neuer Trick von ihr, vielleicht nicht.«
»Ein neuer Trick? Du meinst - uns entkommen zu lassen, nur um uns später wieder einzufangen?«
»Warum nicht? Sie liebt grausame Spiele.« Gowenna stockte, sah an Skar vorbei in das blakende Feuer der Fackeln und tastete mit einer unbewußten Bewegung nach Skars Hand. Ihre Haut war kalt und trocken, und obwohl ihre Stimme in den letzten Minuten zunehmend kräftiger geworden war, spürte er, daß sie noch immer vor Schwäche zitterte.
Zu seiner Überraschung fuhr sie fort: »Wir sollten es tun.«
»Fliehen?«
Gowenna nickte. »Mehr als den Tod können wir nicht finden, Skar. Und ich sterbe lieber, statt weiter in ihrer Gewalt zu sein.«
Mehr als den Tod können wir nicht finden ... Skar wiederholte den Satz ein paarmal in Gedanken, und mit jedem Mal, da er es tat, schienen die Worte spöttischer und unglaubhafter zu klingen. Mehr als den Tod ... Nein, mehr sicher nicht.
Aber war es nicht Gowenna selbst gewesen, die ihm gesagt hatte, daß es Schlimmeres als den Tod gab?
15.
Wenig später wurden sie abgeholt von zwei Abteilungen der schwarzen Krieger, die Gowenna und ihn in verschiedene Richtungen davontrieben. Zu Skars Erstaunen führte ihn seine Eskorte nicht - wie er erwartet hatte - wieder zum Krater, in dem sich Velas Truppe auf den Aufbruch vorbereitete, sondern in die entgegengesetzte Richtung, tiefer ins Herz der unterirdischen Festung hinein. Wie schon beim ersten Mal verlor er nach wenigen Augenblicken die Orientierung; keiner der Gänge und Treppen, über die sie kamen, ähnelte dem anderen, und doch schienen sie auf schwer zu bestimmende Art alle gleich zu sein, so daß Skar nicht zu sagen wußte, ob er schon einmal in diesem Teil der Festung gewesen war oder nicht.
Sie hielten vor einer hohen, aus schwarzem Eisen geschmiedeten Tür. Einer seiner Begleiter deutete mit einer stummen Geste darauf und nickte aufmunternd, als Skar zögernd die Hand nach dem Riegel ausstreckte. Dahinter lag ein langgestreckter, niedriger Raum mit schwarzen Wänden und einer schweren, in der Mitte ein wenig nach unten gewölbten Decke, die fast den Eindruck erweckte, daß sie sich im Inneren eines gewaltigen steinernen Schiffes befanden. Hunderte von unterschiedlich großen und verschieden geformten Lampen und Leuchtern verbreiteten taghelles und doch mildes Licht, und ein schwerer, süßlicher Duft hing wie der Geruch eines exotischen Parfüms in der Luft. Skar trat zögernd durch die Tür und sah sich mit einer Mischung aus Neugierde und Überraschung um. Ein Teil der Wand zur Linken war mit Vorhängen bedeckt; schwerer, wie Blei hängender Stoff, der mit kostbaren Stickereien und goldenen Borten verziert war; dahinter konnte man durch einen schmalen Spalt ein überbreites geschnitztes Bett mit weißem Laken und einer Unzahl bunter Kissen erkennen. Davor gruppierten sich Sessel und Sitzkissen und mehrere kleine, verspielte Tische in perfekt arrangierter Unordnung. Auf einem der Tische war ein Mahl vorbereitet. Es war eine winzige Insel der Behaglichkeit inmitten der bizarren Fremde der Festung, ein winziger Bereich menschlicher Zivilisation, der - trotz allem Prunk - die liebevolle Hand einer Frau erahnen ließ. »Komm näher, Skar. Aber schließ die Tür hinter dir.«
Velas Stimme klang nur gedämpft hinter dem schweren Vorhang hervor. Trotzdem fuhr er erschrocken zusammen, drehte sich mit übertriebener Hast um und zog die schwere Tür ins Schloß.
Als er sich wieder umwandte, teilte sich der Vorhang, und Vela trat hervor. Sie trug noch immer das weiße Kleid wie am Morgen, hatte aber darüber einen ebenfalls weißen, knöchellangen Mantel aus Wolfsfellen geworfen, um sich vor der Kälte, die auch hier unten noch schmerzhaft zu spüren war, zu schützen. Ihr Haar fiel lose bis weit über die Schultern herab und war jetzt bar jeden Schmuckes.
»Tritt näher«, sagte sie freundlich.
Skar zögerte. Sein Blick tastete über den Vorhang. Vela lächelte. »Wir sind allein, wenn es das ist, was du fürchtest«, sagte sie mit einer einladenden Geste. »Überzeuge dich.«
Skar löste sich von seinem Platz, ging wortlos an ihr vorbei und schlug den Vorhang beiseite. Dahinter lag eine gut zehn Fuß tiefe und dreimal so breite Nische, in der sich außer dem Bett nur ein winziges, mit Flaschen und Schälchen übersätes Tischchen und ein hölzerner Schrank befanden.
»Unter dem Bett ist auch niemand«, sagte Vela spöttisch. »Und es gibt auch keine geheimen Türen in den Wänden. Wir sind wirklich allein.«
Skar ließ den Vorhang los und wandte sich wieder zu Vela um. »Allein«, sagte er. »So viel Mut hätte ich dir gar nicht zugetraut.« Er stand auf Armlänge vor ihr. Ein rascher Schritt würde genügen, sie zu packen.
Aber Vela schien nicht einmal eine leise Spur von Furcht zu empfinden.
»Vielleicht ist es auch Dummheit«, sagte sie spöttisch. »Oder aber ein Beweis meines Vertrauens. Nimm Platz.« Sie deutete auf den Tisch, setzte sich selbst auf einen der niedrigen, bequemen Stühle und deutete auf einen anderen.
»Du mußt hungrig sein. Und ein Schluck heißer Brühe wird dich aufwärmen.« Sie mimte ein Frösteln. »Es wird Zeit, daß wir hier wegkommen«, sagte sie. »Ich weiß schon kaum mehr, wie es ist, nicht zu frieren.«
Skar trat langsam, noch immer mißtrauisch, an den Tisch, setzte sich und griff auf eine weitere auffordernde Geste Velas hin nach der Tonschale mit dampfender Suppe. Vielleicht wäre es in seiner Situation angebrachter gewesen, nicht zu trinken, aber er war nicht in der Position - und schon gar nicht in der Stimmung - sich melodramatische Gesten leisten zu können, und der Geruch der Suppe erinnerte ihn daran, daß er seit Tagen nichts Anständiges mehr gegessen hatte. Er leerte die Schale zur Hälfte, setzte sie ab und griff nach dem Brot, das daneben lag.
»Es freut mich, daß es dir mundet«, sagte Vela, nachdem sie ihm eine Zeitlang schweigend beim Essen zugesehen hatte. Sie selbst rührte nichts an, sondern trank nur von Zeit zu Zeit aus einem winzigen, kristallgesäumten Zinnbecher.