»Skar!« schrie Vela. »Bring sie zur Ruhe!« Sie klammerte sich verzweifelt am Sattelknauf fest, beugte sich vor und versuchte auf dem bockenden Schlangenhals des Ungeheuers das Gleichgewicht zu halten. Ihr Blick suchte verzweifelt nach Skar, und trotz der großen Entfernung glaubte er beinahe Furcht auf ihren Zügen wahrzunehmen. »Bring sie zur Ruhe!« schrie sie noch einmal. »Ich lasse sie töten, wenn sie nicht sofort aufhören!«
Tantor legte Skar in einer hastigen Bewegung die Hand auf den Unterarm. »Nicht!« zischte er. »Tu nichts!«
Skar hätte es nicht einmal gekonnt, wenn er gewollt hätte. Er verstand nicht mehr, was dort drüben vorging. Die beiden Sumpfmänner wehrten sich noch immer, aber es war nur mehr ein nutzloses Aufbegehren gegen das Dutzend Männer, die sie hielten. Die Pferde, die bei dem plötzlichen Lärm zum Teil in Panik geraten waren, beruhigten sich zusehends.
Trotzdem wurde der Drachen nicht ruhiger.
Im Gegenteil.
Plötzlich und ohne eine weitere Vorwarnung bäumte sich das Ungeheuer auf. Der gewaltige, dreieckige Schädel ruckte hoch, biß wie in einem irren Schmerz nach den tiefhängenden Wolken; seine Reiterin wurde durch diesen neuerlichen Ruck endgültig aus dem Sattel geworfen, sie flog in einem unmöglich weit gestreckten Bogen durch die Luft und verschwand hinter dem graugeschuppten Leib. Ein Ton, lauter und schriller als alles, was Skar jemals zuvor gehört hatte, entrang sich der Brust des Staubdrachen. Das Ungeheuer stellte sich wie ein bockendes Pferd auf die Hinterläufe, schlug mit den kleineren, mit messerscharfen Krallen bewehrten Vordertatzen in die Luft. Sein Schwanz drosch wie eine gewaltige Keule aus tonnenschweren Muskeln und Horn auf den Boden, zuckte hierhin und dorthin und ließ die Krieger in wilder Panik auseinanderspritzen. Steine und winzige, scharfkantige Glassplitter fuhren wie tödliche Schrapnellgeschosse unter die Reiter und verletzten Menschen und Tiere. Die Erde bebte. Und dann begann das Ungeheuer endgültig zu toben.
Mit einem Brüllen, noch wilder und grauenhafter als zuvor, fuhr der Koloß herum, stieß auf die flüchtenden Reiter herab und spuckte eine brodelnde Wolke grauen, ätzenden Staubes aus. Sein Schwanz peitschte, zerschmetterte Pferde und Männer und riß eine sichelförmige Bresche in die Reihen der Söldner. Eine ganze Abteilung der Reiter verschwand in der kochenden Wolke des Drachenatems; ihre Schreie änderten sich, wurden von Lauten der Furcht zu Todes- und Schmerzensgebrüll. Pferde bäumten sich auf, brachen zusammen, als sich Fleisch und Knochen unter dem ätzenden Biß des Drachenatems auflösten. Ein Tier raste schreiend vor Schmerz, aus der kochenden Wolke hervor; seine Haut war eine einzige blutige Wunde, der Reiter auf seinem Rücken war schon tot, nicht mehr als eine leere, verbrennende Rüstung, die sich ein wenig langsamer auflöste als der empfindliche Körper, den sie gegen den mörderischen Staub nicht hatte schützen können.
»Jetzt!« schrie Tantor. »Reite, Skar!!« Seine Stimme ging im Schreien von Männern und Pferden fast unter, und Skar erriet die Worte mehr, als er sie hörte. Der Drachen tobte noch stärker, sein Schwanz zuckte erneut, beendete den tödlichen Halbkreis, den er mit seiner ersten Bewegung begonnen hatte. Ein scharfer, unerträglich beißender Geruch lag plötzlich in der Luft, legte sich wie ein dünner brennender Film über Skars Gesicht und Hände und verwandelte seine Atemzüge in flüssiges Feuer. Sein Pferd bäumte sich auf. Seine wirbelnden Vorderhufe streiften einen der Krieger und schleuderten ihn aus dem Sattel. Skar zerrte verzweifelt an den Zügeln, warf sich nach vorne und bekam das Tier mit einer gewaltigen Kraftanstrengung wieder unter Kontrolle. Tantor schrie etwas, aber Skar verstand die Worte nicht. Irgendwo vor ihm bewegte sich der Drachen, halb verschwunden hinter einer gewaltigen Wolke aus brodelndem grauem Nebel.
Skar riß mit aller Gewalt an den Zügeln, zwang das Pferd herum und sprengte los - geradewegs auf den Drachen zu! »Skar!« Tantors Stimme überschlug sich fast vor Schrecken. »Was tust du? Du bringst dich um! Komm zurück, du verdammter Idiot!«
Aber Skar hörte gar nicht mehr hin. Tief über den Hals seines Pferdes gebeugt, mit angehaltenem Atem und einen Zipfel seines Umhanges schützend vor das Gesicht haltend preschte er zwischen die fliehenden Krieger, galoppierte ein Stückweit direkt auf den tobenden grauen Giganten zu und wich im letzten Moment zur Seite aus. Ein schwacher Hauch des Drachenatems streifte ihn; sein Umhang schwelte, und auf dem Hals seines Pferdes erschien eine Unzahl winziger roter Punkte. Dann hatte er die tödliche Barriere durchbrochen, jagte an dem Ungeheuer vorbei und war plötzlich wieder inmitten einer Gruppe von Kriegern. Etwas ungeheuer Großes, Massiges tauchte vor ihm auf, glitt mit einer täuschend langsamen Bewegung über ihn hinweg und schmetterte dem Reiter neben ihm Helm und Schädel von den Schultern. Das Pferd galoppierte, blind vor Furcht, weiter, und der kopflose Torso blieb noch einige Meter aufrecht im Sattel sitzen.
Skar riß sein Tier herum, richtete sich auf und sah sich gehetzt um. Der Drachen war neben ihm, weniger als zwanzig Fuß entfernt; sein Schwanz zuckte wieder, schleuderte Männer und Tiere wie Spielzeuge durch die Luft, gleichzeitig senkte sich der gewaltige Schädel mit einer schlangenhaften Bewegung, verfolgte den verzweifelten Zickzack-Kurs eines flüchtenden Reiters. Die fürchterlichen Kiefer schlossen sich, und auf dem Sattel war plötzlich nur noch Blut.
Skar sah einen Schatten vor sich, riß sein Schwert aus dem Gürtel und schlug zu. Sein Hieb prellte dem Krieger die Waffe aus der Hand und schleuderte ihn aus dem Sattel. Skar wartete nicht, bis der Mann wieder auf den Füßen war. Er sprengte weiter, setzte über einen gefallenen Krieger hinweg und sah endlich, was er gesucht hatte.
»Del!!!«
Trotz des unbeschreiblichen Lärmes schien der junge Satai seinen Namen zu hören. Er erkannte Skar und griff mit der Linken nach seinem Schwert.
Seine Bewegung kam zu spät.
Skar ließ ihm nicht die geringste Chance. Er kannte Del zu gut, um nicht zu wissen, daß er trotz allem auf jeden nur denkbaren Angriff vorbereitet war. Deshalb versuchte er erst gar nicht, ihn mit irgendeinem Trick zu überwältigen.
Er ritt ihn schlichtweg über den Haufen.
Del wurde in hohem Bogen aus dem Sattel geschleudert, als Skars Pferd gegen das seine krachte. Die beiden Tiere bäumten sich auf. Skar verlor ebenfalls das Gleichgewicht, stürzte und brachte sich im letzten Moment vor den wirbelnden Hufen der Tiere in Sicherheit.
Er war eine halbe Sekunde vor Del auf den Füßen. Dels Hieb verfehlte ihn um eine Winzigkeit, und zu einem zweiten ließ Skar ihm keine Zeit. Seine Faust schoß vor und traf Dels bandagierte Hand mit gnadenloser Kraft.
Del schrie auf, für eine Sekunde blind vor Schmerz, als der gerade geheilte Knochen zum zweiten Mal brach. Er krümmte sich zusammen, sank in die Knie und preßte die verletzte Hand gegen den Leib. Skar schleuderte ihn mit einem Fußtritt vollends zu Boden und schlug ihm die gefalteten Fäuste in den Nacken. Dels Körper erschlaffte.
Wieder bebte die Erde, und als Skar sich umsah, sah er, daß der Staubdrachen kehrtgemacht hatte und mit einem trompetenden Kampfesschrei auf die flüchtenden Krieger eindrang. Skar bückte sich, warf sich Del wie einen leblosen Sack über die Schulter und griff mit der Linken nach den Zügeln seines Pferdes. Das Tier scheute und schlug aus, aber die Furcht gab Skar zusätzliche Kräfte. Er zwang den Kopf des Pferdes herab, sprang in den Sattel und legte Del vor sich über den Leib des Tieres. Ein Krieger sprengte auf ihn zu, starr, in seltsam verkrampfter Haltung. Aus den Ritzen seines Panzers und durch den Sehschlitz des Visiers quoll dunkelbrauner, fettiger Qualm.
Skar riß das Pferd herum und galoppierte los. Überall lagen Tote - Dutzende, hundert, wie es ihm vorkam, zertrampelte, verbrannte, halb aufgelöste Körper, Männer, die nach dem Tod schrien. Irgendwo zwischen den flüchtenden Gestalten waren zwei schmale graue Schatten, zwischen sich eine dritte, reglose Gestalt schleifend. Dann sah er Tantor, der ein winziger hüpfender Farbklecks auf dem Rücken eines bockenden Pferdes war und mit wild gestikulierenden Armen auf den Waldrand deutete, wobei er ununterbrochen schrie. Skar sprengte auf ihn zu, gab seinem Pferd gnadenlos die Sporen und deutete auch zum Wald hinüber. Tantor riß sein Pferd herum, aber irgend etwas schien mit dem Tier nicht zu stimmen: Es lahmte, warf immer wieder den Kopf hin und her und weigerte sich, zu laufen, obwohl Tantors Sporen tiefe blutige Gräben in seine Haut rissen.