»Skar!« brüllte der Zwerg. »Hilf mir!« In seiner Hand blitzte plötzlich ein winziger nadelspitzer Dolch. Mit einem gellenden Schrei stieß er seinem Pferd die Spitze in den Hals und riß an den Zügeln, als das Tier vor Schmerz einen Satz machte. »Hilf mir!« kreischte er. Sein Pferd ging durch, bockte, brach in den Hinterbeinen ein und kam wie durch ein Wunder noch einmal hoch. Tantor beugte sich verzweifelt im Sattel vor, griff nach Skars Umhang und glitt ab, bekam aber einen Steigbügel zu fassen. Skar spürte einen schmerzhaften Ruck, als Tantor aus dem Sattel gerissen und mitgeschleift wurde. Der Zwerg begann zu kreischen, griff mit der anderen Hand nach Skars Sattel und klammerte sich fest.
»Laß los!« schrie Skar, aber Tantor hörte seine Worte nicht. Sein Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung, während er versuchte, sich zu Skar auf den Rücken des Pferdes zu ziehen. Das Tier scheute. Seine Schritte kamen aus dem Takt, wurden zu einem mühsamen, arhythmischen Stampfen. Skar kämpfte mit aller Kraft um seine Gleichgewicht und versuchte gleichzeitig, Del vor sich festzuhalten. »Laß los!« schrie er noch einmal, aber wieder reagierte Tantor nicht. Er klammerte sich am Sattel fest, schrie vor Furcht und Schmerz und zog sich mit erstaunlicher Kraft Zentimeter für Zentimeter nach oben.
Skar ließ den Zügel los, klammerte sich nur mit der Kraft seiner Beine fest und schlug zu. Seine Faust traf Tantor über dem Auge; der Schlag war so wuchtig, daß Skar ihn als dumpfen Schmerz bis in die Schulter hinauf spürte. Tantors Schreie verstummten. Seine Hände lösten sich. Er stürzte zu Boden, überschlug sich wie ein kleiner, bunter Stoffball und blieb reglos liegen. Skar griff hastig wieder nach den Zügeln, verschwendete drei, vier Sekunden damit, das bockende Pferd zu beruhigen, und ritt weiter. Die beiden Sumpfbrüder und Gowenna waren bereits ein gutes Stück vor ihm, kaum hundert Schritte vom Waldrand und der rettenden Schneise entfernt, und hinter ihnen tobte nach immer das Chaos. Die Schreie des Drachen waren leiser geworden, aber dafür brach in einer verspäteten, bisher durch ungläubigen Schrecken gelähmten Reaktion, unter Velas Kriegern endgültig Panik aus. Er glaubte Gowennas Stimme in dem unbeschreiblichen Lärm zu hören, war sich aber nicht sicher.
Sein Pferd begann zu lahmen. Die Haut des geschundenen Tieres war blutig, von zahllosen verätzten Wunden und Rissen übersät, und das Gewicht zweier ausgewachsener Männer war mehr, als es noch zu tragen imstande war. Skar sah sich abermals um. Noch schien keiner der Soldaten daran zu denken, sie zu verfolgen, aber es waren noch immer mehr als zweihundert Schritte bis zum Waldrand, eine lächerliche Entfernung, und doch zu weit, wenn man von Männern mit Armbrüsten und Bögen verfolgt wurde. Er trieb das Pferd noch einmal an, zwang es mit brutaler Kraft, weiterzustolpern, und sprang aus dem Sattel, als es endlich, zitternd und wimmernd vor Schmerz und Erschöpfung, stehenblieb. Vom Waldrand her drang ein hoher, vibrierender Ruf zu ihm. Er warf sich Del über die Schultern, ging unter dem Gewicht für einen Moment in die Knie und rannte los. Ein Schatten löste sich vom Waldrand, aber die Zeit schien plötzlich stehenzubleiben, und Dels Gewicht nahm mit jeder Sekunde zu. Skar taumelte weiter, rang nach Luft und fiel auf die Knie. Hinter ihm erscholl ein wütender Schrei, und irgend etwas Dunkles, Schlankes zischte an ihm vorbei. Er spürte kaum noch, wie El-tra neben ihm anlangte und sich Del so mühelos, als wäre er nicht mehr als eine Stoffpuppe, über die Schulter warf. Eine Hand packte ihn, riß ihn mit unmenschlicher Kraft vom Boden hoch und zerrte ihn mit sich. Ein zweiter Pfeil zischte heran, zersplitterte wenige Fuß neben ihm auf dem spröden Glasboden, dann ein dritter, besser gezielt und nahe, zu nahe. Der Boden dröhnte plötzlich unter dem hämmernden Stampfen von Pferdehufen. Er wollte sich umsehen, aber El-tra riß ihn rücksichtslos mit sich, so daß er Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten und auf den Beinen zu bleiben.
Die Reiter hatten sie fast eingeholt, als sie den Waldrand erreichten. Skar taumelte blind an El-tra vorbei, brach durch eine schmale, von rasiermesserscharfen Glaszähnen eingerahmte Lücke zwischen den Stämmen und sank in die Knie. Übelkeit stieg wie eine schleimige Woge in ihm empor. Er spürte kaum, wie El-tra das Tschekal aus seinem Gürtel riß und sich - gemeinsam mit seinem Bruder, der sich Dels Waffe bemächtigt hatte - den Reitern entgegenwarf. Der Wald begann sich vor seinen Augen zu drehen. Die Übelkeit verschwand und kam dann, urplötzlich und zehnmal schlimmer, zurück. Skar übergab sich würgend, immer und immer wieder, bis sein Magen leer war und er nur noch bittere Galle erbrach.
Jemand berührte ihn an der Schulter. Mühsam hob er den Kopf und blickte in ein schmales, zweigeteiltes Gesicht.
»Bist du verletzt?« fragte Gowenna.
Skar schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln, aber er brachte nur eine Grimasse zustande. »Nein«, sagte er. »Ich glaube jedenfalls nicht.« Hinter ihnen erscholl Kampfeslärm, das berstende Geräusch von Stahl und Rüstungen, die Schreie von Männern und Tieren. Skar griff blind nach einem Halt, zog sich unter erheblicher Anstrengung auf die Füße und drehte sich um, aber Gowenna hielt ihn mit einer hastigen Bewegung zurück. »Nicht«, sagte sie. »Es sind nur vier. Die Sumpfbrüder werden sie abwehren. Wir müssen weg.«
Skar zögerte. Sie waren nur wenige Schritte in den Wald eingedrungen, aber selbst von hier aus war es schon fast unmöglich, zu sehen, was sich draußen abspielte. Die blitzenden Kristallstämme standen so dicht, daß alles, was mehr als einen Schritt entfernt vor sich ging, hinter einem Vorhang aus Licht und tanzenden Reflexen verborgen blieb. Seine Hand glitt an den Gürtel, ehe ihm einfiel, daß El-tra seine Waffe hatte. Aber schließlich kämpfte er auch seinen Kampf.
»Wir müssen weiter«, sagte Gowenna noch einmal. »Hier sind wir nicht sicher. Sie haben sich noch nicht von der Überraschung erholt, aber wenn Vela alle ihre Krieger hinter uns herschickt, dann erwischen sie uns.«
Skar nickte, doch es war eigentlich nur ein Reflex auf den Klang ihrer Stimme, nicht auf die Worte. Er bückte sich zu Del herab, drehte ihn auf den Rücken und untersuchte ihn flüchtig. Der Verband an Dels Hand war gerötet von frischem Blut, aber sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. »Du mußt mir helfen, ihn zu tragen«, sagte er. »Ich schaffe es nicht mehr allein.«
Gowenna runzelte die Stirn, schwieg aber. Gemeinsam hoben sie Del hoch, wobei Skar ihn unter den Schultern ergriff und sich bemühte, den Großteil des Gewichts zu übernehmen. »Wohin?« Gowenna deutete mit einer Kopfbewegung nach Süden, tiefer in den Wald hinein. Sie gingen los, aber es erwies sich als fast unmöglich, neben- oder hintereinander zu gehen und Dels reglosen Körper mitzuschleppen. Das Geflecht der Bäume und Büsche war zu eng, die Stämme, die zum Teil nur dünn wie Schilf, mancherorts aber auch so stark wie ein Menschenleib waren, standen zu eng, und dort, wo ein Durchkommen möglich schien, waren die Zwischenräume Fallgruben aus tödlichen Klingen und Dolchen. Skar, der vorausging, war schon nach Augenblicken am ganzen Leib zerstochen und zerschnitten; er blutete aus unzähligen winzigen Wunden, und einer der harten Stengel war wie ein Dolch durch die zähe Sohle seines Stiefels gefahren und hatte sich in seinen Fuß gebohrt.