Skar blieb stehen, schüttelte erschöpft den Kopf und ließ Del behutsam zu Boden sinken. »Sinnlos«, sagte er. »Wir müssen warten, bis er erwacht.«
»Er wird nicht sehr begeistert sein«, vermutete Gowenna. Etwas in ihrer Stimme, ein Unterton, den sie angestrengt zu verbergen versuchte, der aber trotzdem hörbar blieb, ließ Skar aufsehen. »Und du auch nicht«, sagte er.
Gowenna antwortete nicht. Die düstere Beleuchtung hier im Inneren des Waldes machte es Skar unmöglich, den Ausdruck auf ihren Zügen zu erkennen, aber er spürte trotzdem, daß er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte.
»Er wird uns keine Schwierigkeiten bereiten, das verspreche ich«, sagte er.
Gowenna drehte sich um und sah eine Weile in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Sie hatten sich kaum weiter als dreißig oder vierzig Schritte vom Waldrand entfernt, aber selbst hier war der Lärm des Kampfes kaum noch zu hören. Die silbrigweißen Stämme und Blätter des erstarrten Waldes schienen nicht nur das Licht, sondern auch jegliches Geräusch zu verschlucken.
»Was war mit Tantor?« fragte sie, ohne ihn anzusehen.
»Was soll mit ihm gewesen sein? Du hast es gesehen.«
Gowenna nickte. »Ja. Aber ich möchte eine Erklärung für das, was ich gesehen habe.«
Skar schürzte wütend die Lippen. »Was gibt es da zu erklären? Er hat sein Pferd zuschanden geritten. Wenn ich ihn nicht weggestoßen hätte, hätte er mich mit aus dem Sattel gerissen. Und mein Tier hätte keine drei Männer getragen.«
Gowenna drehte sich nun doch herum, schnell, mit einer abgehackten, fast wütenden Bewegung, starrte sekundenlang wortlos auf Del hinab und ballte die Fäuste.
»Drei nicht, aber zwei.«
»Del ist mein Freund«, sagte Skar betont. »Und es ist mir vollkommen egal, was er getan oder gesagt hat, Gowenna. Ich werde herausfinden, was diese Hexe mit ihm getan hat, und ich werde ihm helfen.«
»So wie du Tantor geholfen hast?«
Skar machte eine wütende Geste. »Was ist in dich gefahren?« regte er sich auf. »Hast du plötzlich dein Herz für diesen Gnom entdeckt? Er wußte genau, welches Risiko diese Flucht bedeutet. Und ich kann nichts dafür, wenn er mit einem Messer auf sein Pferd einsticht, um es weiterzutreiben! Was hätte ich tun sollen? Del aus dem Sattel werfen, um ihm zu helfen? Oder warten, bis Velas Schergen uns alle drei wieder eingefangen hätten?«
»Er hat uns geholfen«, sagte Gowenna leise. »Ohne ihn wäre es El-tra niemals gelungen, den Drachen abzulenken.«
»Wie meinst du das?«
Gowenna lächelte, aber es wirkte eher wie ein Vorwurf. »Was glaubst du, warum die Bestie plötzlich durchdrehte?« fragte sie. »Tantor hat die Sumpfbrüder den Ruf des Drachen gelehrt.«
»Den Ruf des Drachen? Was ist das?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Gowenna. »Er nannte es so, aber El-tra schien sofort zu wissen, was er meinte. Ein Laut - vielleicht etwas wie ein Brunftschrei - was weiß ich? Wußtest du nicht, daß die Sumpfleute mit den Tieren reden?«
»Geschwätz.«
»Sicher. Sie reden nicht mit ihnen, wenn du das meinst, aber sie vermögen sie zu beruhigen - oder zur Raserei zu bringen, je nachdem.«
»Und selbst wenn«, murmelte Skar. »Er kannte das Risiko.« Plötzlich schrie er: »Verdammt noch mal, Gowenna - wenn dir dieser verlogene Zwerg so sehr am Herzen liegt, dann geh doch hinaus und hole ihn! Vela wird sich sicher freuen, dich wiederzusehen!«
Sein Zorn prallte an ihr ab. Sie blieb ruhig, hielt seinem Blick stand und kam im Gegenteil noch einen Schritt näher. »Was hat sie mit dir gemacht, Skar?« fragte sie. »Dich behext?«
Skar wollte auffahren, aber er spürte, daß er ihr, ganz gleich, was er auch sagen konnte, nur recht geben würde. So schwieg er, auch, als Gowenna neben ihm niederkniete und ihm die Hand auf den Unterarm legte. Das vertraute Gefühl, das ihre Berührung sonst in ihm ausgelöst hatte, blieb aus. Sie schienen plötzlich nur noch Fremde füreinander zu sein.
»Verdammt, Gowenna - was hätte ich denn tun sollen?«
Sie schwieg einen Moment, sah auf Del herab und berührte sein Gesicht mit den Fingerspitzen. »Ich weiß es nicht«, sagte sie leise und ohne ihn anzusehen. »Aber ich kannte einmal einen Skar, der hätte diese Frage nicht gestellt.«
Ein sonderbares irreales Gefühl von Schuld machte sich in Skar breit. Keine Schuld Tantor gegenüber - er fühlte sich dem Zwerg in keiner Hinsicht verpflichtet und hatte schlimmstenfalls mit gleicher Münze zurückgezahlt - aber das plötzliche Gefühl, vor sich selbst versagt zu haben, auch wenn er vielleicht subjektiv richtig gehandelt hatte. Gowenna war der Wahrheit nähergekommen, als sie wahrscheinlich selbst ahnte. Vela hatte etwas mit ihm gemacht, aber es war nicht heute morgen geschehen, auch nicht in den Tagen zuvor, die er im Kerker verbracht hatte, sondern viel, viel früher. Sie hatte einen Keim gelegt, den Keim zu einer Veränderung, die ebenso langsam wie unaufhaltsam mit ihm geschah. Wie lange hatte er in sich hineingelauscht, hatte auf die Stimme, das Erwachen seines Dunklen Bruder, gewartet? Der war stumm geblieben, als hätten Velas Bemühungen, ihn zu erwecken, das Gegenteil bewirkt, aber Skar begriff plötzlich, daß das gar nicht stimmte. Er war längst erwacht, und er hatte - vielleicht schon, bevor sie dieses Land und die Brennende Stadt erreicht hatten - damit begonnen, seine Seele zu verändern, ihn langsam, ganz langsam erstarren zu lassen. Und er würde fortfahren, ganz gleich, ob er sich dagegen wehrte oder nicht, er würde seine Seele vergiften und ihn töten, Stück für Stück, bis er so kalt und berechnend wie Vela selbst geworden war.
Del stöhnte leise. Er erwachte nicht, aber sein Gesicht zuckte. Der Verband an seinem Handgelenk war mittlerweile vollkommen durchblutet, und etwas Dünnes, Spitzes stieß von unten gegen den Stoff. Der Knochen mußte gesplittert, nicht nur gebrochen sein.
»Kannst du ... etwas gegen seine Schmerzen tun?« fragte Skar stockend.
Gowenna schüttelte den Kopf. »Mit leeren Händen? Er wird durchhalten müssen, bis wir in Cosh sind.«
Skar seufzte ergeben. Del war stark, das wußte er. Und die Verletzung würde ihn vielleicht davon abhalten, einen Fluchtversuch zu unternehmen. »Wie weit ist es?«
Gowenna überlegte einen Moment. »Fünf, vielleicht zehn Meilen. Genau weiß ich das nicht - aber die Grenze zu Cosh liegt auf der anderen Seite dieses Kristallwaldes. Es wird nicht leicht sein, ihn zu durchqueren, wir -«
Die Rückkehr der beiden Sumpfbrüder unterbrach sie. Die beiden Männer aus Cosh erschienen Skar gleicher denn je - ihre Umhänge waren zerfetzt und blutig, beide nicht von ihrem Blut und beide auf die gleiche Weise - und selbst die Art, in der sie die Schwerter hielten, der eine rechts, der zweite, wie in einer spiegelverkehrten Abbildung, in der linken Hand, ähnelte sich auf verblüffende Weise.
»Wir müssen weg. Rasch.« Es war nicht festzustellen, welcher der beiden El-tra sprach; die blitzenden Wände des Kristallgewölbes verzerrten seine Stimme und warfen sie in tausendfachen leisen, glockenhellen Echos zurück, so daß sie aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien. »Kann er gehen?« Einer der beiden deutete auf Del. Skar schüttelte den Kopf. Der Sumpfmann schob das Schwert - es war Dels Tschekal, wie Skar mit einem raschen Blick feststellte - in den Gürtel, bückte sich und lud sich den bewußtlosen Satai auf die Schulter. Skar war sich nicht sicher, aber er hatte für einen Moment den Eindruck, als ob der Sumpfmann unter dem Gewicht des reglosen Körpers wanke. Auch die Kraft der Sumpfleute war nicht unerschöpflich.
»Kommt.«
Sie gingen los, El-tra mit Del über der Schulter an der Spitze, gefolgt von Skar und Gowenna. Der zweite Sumpfmann bildete den Abschluß. Skar fiel auf, daß er sich immer wieder mit kleinen, nervösen Blicken umsah.
Skar verlor schon nach wenigen Schritten die Orientierung. Das glitzernde Dach über ihren Köpfen ließ zwar das Tageslicht hindurch, aber er konnte weder die Sonne noch den Himmel wirklich sehen, und es gab in diesem Labyrinth aus Licht und Glas und tödlichen Spitzen keine Geradeaus, sondern nur ein scheinbar zielloses Hin und Her, eine mühsame Suche nach Lücken und Durchlässen, die nur zu oft damit endete, daß sie weit auf ihrer eigenen Spur zurückgehen und einen anderen Weg suchen mußten. Skar hätte schon nach Augenblicken nicht mehr sagen können, in welche Richtung sie sich nun bewegten.