»Wie viele Männer verfolgen uns?« fragte er.
»Keiner«, antwortete El-tra. »Sie sind noch dabei, ihre Wunden zu lecken und die Überlebenden zu versorgen. Die Errish muß die Hälfte ihrer Leute eingebüßt haben. Aber sie hat andere Möglichkeiten, uns zu verfolgen.«
Skar hätte den Sumpfmann gern nach diesen Möglichkeiten gefragt, doch der Weg wurde schwieriger, und für die nächsten Minuten, vielleicht auch für Stunden, hatte er alle Mühe, hinter El-tra zu bleiben und sich dabei keine schweren Verletzungen zuzuziehen. Nach einer Weile begann sich der »Wald« aufzulockern; die Stämme traten ein wenig weiter auseinander, und sie kamen etwas schneller voran.
Nach einer Weile blieb El-tra stehen und ließ Del zu Boden sinken, nun sichtlich erschöpft. Er wankte, und im unsicheren Licht des verzauberten Kristallwaldes schien es Skar für einen Augenblick, als flackere seine Gestalt, als wären die Kräfte, die die wogenden Nebel unter der spitzen Kapuze in ihrer Form hielten, erlahmt. Er warf dem Sumpfmann einen langen, besorgten Blick zu, kniete neben Del nieder und versuchte ihn aufzuheben. Es ging nicht. Auch er war erschöpft durch den langen, kräftezehrenden Marsch, aber auch durch den Verlust an Blut, das aus unzähligen winzigen Schnittwunden über seine Arme und Beine lief. Mit einem erschöpften Keuchen richtete er sich, schwankend und die Hände haltsuchend ausgestreckt, auf, lehnte sich gegen einen der kühlen, glatten Stämme und schloß die Augen. Das Blut rauschte hinter seinen Schläfen, und die Atemzüge waren scharf wie geriebenes Glas und schmeckten nach Blut.
»Wir schaffen es nicht«, flüsterte Gowenna. Sie war neben ihm zusammengesunken, den Kopf auf die Knie gestützt und die Hände wie in Schmerzen gegen den Leib gepreßt. »Diesmal sind wir erledigt, Skar.«
Skar öffnete mühsam die Augen. Das Licht flackerte und verlieh den starren Kristallstrukturen um sie herum scheinbares Leben. »Wir werden es schaffen«, widersprach er. »Ich denke gar nicht daran, aufzugeben. Jetzt nicht mehr. Ich werde ... Del tragen. Gib mir nur ein paar Augenblicke, um neue Kraft zu schöpfen.«
Gowenna hob müde den Kopf und sah ihn an. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht konnte ein Lächeln sein, vielleicht aber auch etwas ganz, ganz anderes.
»Mach dich nicht zum Narren, Skar«, sagte sie ruhig. »Du bist am Ende, genau wie wir. Du kannst ja kaum mehr aus eigener Kraft stehen.«
»Und was schlägst du vor, das wir tun sollen?« fragte Skar böse. »Hier warten, bis Velas Männer uns eingeholt haben?«
»Natürlich nicht«, mischte sich El-tra ein. »Aber Gowenna hat recht - wir waren zu lange in Tuan. Unsere Kräfte sind erschöpft. Mein Bruder wird allein vorausgehen und Hilfe holen.«
»Hilfe?« Skar lachte leise, als hätte der Sumpfmann einen Scherz gemacht. »Und wo?«
»Cosh ist nicht weit, Bruder«, antwortete El-tra ernst. »Mit etwas Glück können wir bei Sonnenaufgang zurücksein. So lange müßt ihr euch hier verbergen.«
»Und wenn er nicht zurückkommt?«
»Ich komme zurück«, sagte El-tra. Er schien einen Moment zu überlegen, griff dann unter seinen Mantel und zog Dels Schwert hervor. Ohne ein weiteres Wort drückte er Skar die Waffe in die Hand, drehte sich um und verschwand im Unterholz. Seine Schritte waren noch eine Weile auf dem klingenden Boden zu hören.
Skar fühlte sich plötzlich auf seltsame Weise alleingelassen. Für einen Moment mußte er mit aller Macht gegen den irrsinnigen Impuls ankämpfen, blindlings hinter dem Sumpfmann herzustürzen. El-tra war längst kein Fremder mehr für ihn, sondern so vertraut wie ein guter Freund, mit dem er seit Jahrzehnten zusammen war. »Keine Sorge, Bruder«, murmelte der andere Sumpfmann. »Er wird zurückkommen. Wir kennen diese Wälder. Auch ihre Gefahren.« Obwohl die Worte dazu gedacht waren, Skar zu beruhigen, bewirkten sie eher das Gegenteil. Aber er beherrschte sich und schwieg.
»Wir sollten trotzdem weitergehen«, fuhr der Sumpfmann fort. »Wir sind noch zu dicht am Waldrand. Velas Arm reicht weit.«
»So?« Skar stieß sich von dem Baumstamm, an dem er gelehnt hatte, ab, machte einen Schritt auf den Sumpfmann zu und sah ihn scharf an. »Wahrscheinlich ist es sinnlos«, sagte er spöttisch, »aber vielleicht kannst du dir irgendwann einmal angewöhnen, nicht in Rätseln zu sprechen. Was heißt: Velas Arm reicht weit?«
»Wüßte ich es, wären wir nicht hier«, entgegnete El-tra. »Doch ich spüre, daß wir noch nicht in Sicherheit sind. Vielleicht gewähren uns nicht einmal die Grenzen von Cosh wirklichen Schutz. Du kennst diese Frau besser noch als wir, Skar. Sie wird nicht eher ruhen, als bis sie erreicht hat, was sie will.«
»Vielleicht könntet ihr für einen Moment damit aufhören, euch ununterbrochen Dinge zu erklären, die ihr längst wißt«, sagte Gowenna spitz. »Del erwacht.«
Skar fuhr schuldbewußt zusammen und kniete neben Del nieder. Das Gesicht des jungen Satai glänzte vor Schweiß, trotz der Kälte und der Feuchtigkeit, die sie auch hierherverfolgt hatte und beharrlich durch ihre Kleider kroch. An seinem Hals pochte eine Ader. Skar erschrak, als er sah, wie schlecht Dels Zustand wirklich war. Der gebrochene Arm mußte sehr schmerzhaft sein - aber darin allein konnte der Grund für das Beinahe-Koma, in dem Del lag, kaum liegen. Seine Augenlider flatterten, öffneten sich für einen Moment und fielen dann wieder zu, als fehle ihm selbst für diese Bewegung noch die Kraft. Skar sah auf und blickte erst Gowenna, dann den Sumpfmann hilfesuchend an.
»Was ... ist mit ihm?« fragte er.
Gowenna bedeutete ihm mit einer Geste, beiseite zu treten, und Skar gehorchte. Del bewegte sich stärker, öffnete noch einmal die Augen und versuchte sich hochzustemmen. Sein Blick war verschleiert. Er sah Skar an, aber in seinen Augen war kein Erkennen. Ohne ein weiteres Wort ließ sich El-tra neben ihm nieder, zwang ihn mit sanfter Gewalt wieder zurück und legte Mittel- und Zeigefinger der linken Hand über seine Augen.
»Was habt ihr vor?« fragte Skar besorgt.
Gowenna winkte ungeduldig ab. »Nichts, was dir Anlaß zur Sorge geben könnte«, sagte sie ausweichend.
»Aber -«
»Bitte, Skar - laß ihn. Wenn du willst, daß dein Freund lebend in Cosh ankommt, dann vertraue El-tra. Wenn du es sonst schon nicht kannst.«
Skar schluckte den kaum verhüllten Vorwurf in Gowennas Worten widerspruchslos hinunter und wandte sich ab. Sie waren alle nervös, nervös, verängstigt und dazu am Ende ihre physischen Kraft. Wenn er sich jetzt auf einen Streit mit Gowenna einließ, dann würde er vielleicht Dinge sagen, die ihm hinterher leid täten. Eine Zeitlang ging er unruhig auf und ab, während El-tra weiter reglos dahockte, die Linke auf Dels Gesicht, und leise, unverständliche Worte murmelte. Aber was immer er tat - es wirkte. Dels Atem beruhigte sich. Sein Blick wurde wieder klar, wenn auch auf eine Art, die Skar bewies, daß er noch immer nicht Herr seiner Sinne war. Nach einer Weile stand El-tra auf, trat einen Schritt zurück und hob die Hand. Dels Blick hing wie gebannt an seinem Schattengesicht. Wieder stemmte er sich hoch, versuchte aufzustehen und sank mit einem schmerzhaften Seufzer zurück. El-tra schüttelte den Kopf. »Sinnlos«, sagte er. »Velas Einfluß ist zu stark in ihm. Und ich bin allein nicht stark genug, ihn brechen zu können.« Er schwieg einen Moment, drehte sich um und fuhr fort: »Wir werden ihn tragen müssen. Oder hierbleiben.« Skar antwortete nicht darauf. Und er wollte auch plötzlich gar nicht mehr wissen, was El-tra getan oder gemeint hatte. Er war so lange mit den Sumpfbrüdern zusammengewesen, daß er zu vergessen begann, was sie wirklich waren - nämlich keine Menschen, sondern Männer eines Volkes, das vielleicht ebenso fremd und unverständlich war, wie es die Erbauer Combats gewesen sein mochten.