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»Lauft!!«

Noch während El-tra zurückeilte, um Del zu holen, rannten Gowenna und Skar los. Die Lücke begann sich bereits wieder zu schließen, aber sie schafften es, wenn auch keiner von ihnen hinterher genau zu sagen wußte, wie. Neue Netze wehten ihnen entgegen, keine starren Wände diesmal, sondern dünne, bewegliche Gespinste, die sich wie Altweibersommer um ihre Glieder und auf ihre Gesichter legten, sie zu fesseln und zu ersticken trachteten, als hätte der Wald eingesehen, daß er seine Taktik ändern mußte, um seiner Opfer habhaft zu werden. Skar schlug schreiend um sich, riß sich Hände und Arme an dem gläsernen Gewebe blutig und taumelte, blind den beiden Schatten folgend, in die sich Gowenna und El-tra verwandelt hatten, weiter. Der beißende Schaumteppich auf dem Boden reichte ihm jetzt bis an die Oberschenkel, und bei jedem Schritt schoß eine feurige Lohe durch seine Beine; er schwang seine Waffe wie eine Sense und spürte, wie das Gespinst rascher nachwuchs, als er es kappen konnte. »Lauf, Skar!« Gowennas Stimme war voller Blut, und sie drang durch einen Nebel von Glas zu ihm. Er wankte, schlug blindlings um sich, prallte gegen ein Hindernis, riß sich die Seite auf und fühlte, wie etwas beißend und eisig seinen Nacken hinunterlief. Und dann war es vorbei. Plötzlich war der Wald wirklich Wald, die Bäume grün und schwarz, wie sie sein sollten, der Boden weich und federnd, nicht mehr länger aus schneidenden Messern gemacht, und es gab keine Kristallspinnen und keine Netze mehr.

Nur noch Schmerz. Der Schmerz war ihm gefolgt wie ein dunkler Bruder des Waldes. Alles um ihn herum begann sich zu drehen, zu wanken; der Boden zitterte. Aber noch bevor er merkte, daß diesmal er es war, der wankte, verlor er endgültig das Bewußtsein.

18.

Er erinnerte sich hinterher kaum, wie er die nächsten drei Tage verbrachte. Er war nicht die ganze Zeit bewußtlos, aber doch in einem Zustand, der dem der Bewußtlosigkeit sehr nahekam. Es gab Zeiten des Schmerzes und Zeiten, in denen er taub und jenseits aller Gefühle dahindämmerte, vage Laute und Geschehen um sich wahrnahm aber nicht wirklich begriff, was vorging.

Das erste, was er wieder bewußt wahrnahm, war Kälte; nicht die beißende Eisigkeit Tuans, sondern ein klammes, feuchtes Gefühl wie Nebel. Er öffnete die Augen und sah ein durchbrochenes Blätterdach über sich, kunstvoll verwobene Zweige, mit Erdreich und Moos abgedeckt, aber so alt, daß es schon wieder zu verfallen begann. Sein Kopf fühlte sich seltsam leicht an, und er spürte, daß Zeit vergangen war. Viel Zeit. Er lag auf einem niedrigen, aus Moos und geflochtenen Grasbüscheln gefertigten Lager; eine dünne, aus braunen Pflanzenfasern geknüpfte Decke war über seine Beine gebreitet, und in seinen Füßen pochte ein sanfter, beinahe wohltuender Schmerz. Er setzte sich auf, schlug die Decke zurück und begutachtete seine Beine. Bis zu den Knien herauf waren sie verbunden; grauer, grober Stoff, unter dem sich noch etwas anderes befinden mußte, denn der Verband war dicht und hatte das Aussehen von Stiefeln. Er bewegte prüfend die Zehen; es ging, wenn es auch weh tat.

»Du solltest das nicht tun«, sagte eine Stimme. »Unsere Heilkunst ist sehr gut, aber Wunder können wir auch nicht wirken. Du mußt deinem Körper Ruhe gönnen.«

Skar sah erschrocken auf. Im ersten Moment erkannte er nicht, woher die Stimme gekommen war, dann gewahrte er einen grauen, gebeugten Schatten, der in einer Ecke der Hütte hockte. »El-tra?«

Der Schatten vollführte eine Bewegung, die Skar als Kopfschütteln deutete. »Mein Name ist Kor-tel«, antwortete er. »Doch du kannst mit mir reden wie mit ihm. Was er weiß, weiß auch ich, und was ich weiß, weiß auch er.«

Skar seufzte. »Ich vermute, ich bin in Cosh«, murmelte er. »Jedenfalls hört es sich so an.«

Kor-tel nickte. »Du bist in Sicherheit. Deine Freunde auch.«

»Dann haben wir es geschafft. Habt ihr uns aus dem Wald herausgeholt?«

»Aus dem Kristalldschungel? Nein. Ihr habt euch aus eigener Kraft gerettet. El-tra kam zu uns, doch wir waren nicht rechtzeitig zurück. Und wir hätten euch auch nicht helfen können. Doch nun sollst du ruhen. Zum Reden ist später noch Zeit genug.«

»Ruhen?« Skar ächzte. »Wie lange bin ich hier?«

»Drei Tage und zwei Nächte, bald drei. Die Sonne geht bereits unter.«

Skar lächelte. »Und du glaubst, ich würde Ruhe brauchen, nachdem ich drei Tage geschlafen habe?« Er setzte sich vollends auf, verlagerte das Körpergewicht auf die Seite und versuchte sich hochzustemmen. Seine Füße quittierten die Bewegung mit stechenden Schmerzen, aber sie trugen sein Körpergewicht. Er stand auf, blieb für die Dauer von drei, vier Lidschlägen reglos stehen und bückte sich dann nach seinen Kleidern. Kor-tel schüttelte den Kopf.

»Du bist ein erstaunlicher Mann, Skar. Was Gowenna über dich erzählt hat, scheint zu stimmen.«

Skar versuchte zu lächeln. »Warum auch nicht?« fragte er. »Offen gestanden würde ich lieber liegenbleiben, aber wir haben schon viel zuviel Zeit verloren. Drei Tage ...« Er schüttelte den Kopf, schloß mit zitternden Fingern die Schnalle seines Umhangs und sah prüfend an sich hinunter. Er wirkte eher wie die boshafte Karikatur eines Satai als wie ein Angehöriger der Kriegerkaste: Sein Körper war über und über mit Verbänden und Pflastern bedeckt, und dort, wo die Haut sichtbar blieb, war sie zerschunden und rot, mit winzigen Linien wie Messerschnitten übersät. Seine Kleider waren nur noch Fetzen, und selbst sein Harnisch war zerschrammt und eingerissen. Aber für den Moment würde es gehen. »Bring mich zu Gowenna«, sagte er.

Kor-tel stand auf, ging gebückt an ihm vorbei und schlug die Decke zur Seite, die den Ausgang verschloß. Skar blinzelte, als er hinter dem Sumpfmann ins Freie trat. Die Sonne sank, wie Kor-tel gesagt hatte, aber ihr Licht war noch grell und stechend und suggerierte eine Wärme, die nicht da war.

Der Anblick war beinahe enttäuschend. Wie jedermann auf Enwor hatte Skar viel über Cosh gehört; viel und doch wenig, eigentlich, wenn er es recht bedacht, nichts außer Vermutungen. Gowenna war der erste Mensch, den er traf, der Cosh wirklich betreten - und auch wieder verlassen - hatte. Er wußte nicht, was er erwartet hatte; aber das nicht.

Die Hütte lag am Rand einer kreisrunden, vielleicht tausend Fuß durchmessenden Lichtung. Der Boden war mit kurzem, hartem Gras und Büscheln einer dornigen Pflanze bewachsen; hier und da lugte der gelbe oder weiße Farbfleck einer Blume hervor, und vom Waldrand aus schlängelte sich ein schmaler Trampelpfad in scheinbar sinnlosen Windungen heran. Es gab drei weitere Bauwerke - wie das, in dem er erwacht war; halbrunde Kuppeln aus geflochtenem Gras und Ranken ohne Fenster oder feste Türen. Sonst nichts. Cosh war keine Stadt, nicht einmal ein Dorf. Selbst diese vier Hütten sahen aus, als wären sie schon seit langem verlassen. Die Anzeichen des Verfalls waren unübersehbar. »Was hast du?« fragte Kor-tel, als Skar überrascht stehenblieb. »Enttäuscht?«

Skar wollte nicken, besann sich aber im letzten Moment anders; schließlich wollte er den Sumpfmann nicht verletzen. So suchte er Zuflucht in einem verlegenen Lächeln. »Nein«, sagte er hastig. »Ich war nur ... überrascht. Ich hätte etwas anderes erwartet.« Obwohl er Kor-tels Schattengesicht nicht sehen konnte, war er fast sicher, daß der Sumpfmann lächelte. »Du hast eine Stadt erwartet«, vermutete er. »Oder eine Burg. Eine von Ranken und Baumwurzeln überwucherte Festung im Herzen der Sümpfe.« Seine Stimme klang amüsiert. »Du wirst sie nicht finden. Dies hier ist Cosh.«