Und dann ? dachte er. Er wußte nicht wie, aber er wußte, daß die Sumpfmänner ihr Versprechen wahrmachen und ihn erwecken würden, und es würde ein Del sein, der den Namen Vela niemals gehört, der niemals gegen ihn gekämpft und niemals auf der anderen Seite gestanden hatte.
Ein Fremder.
Es würde nichts nutzen, ihm die Erinnerung zu nehmen. Nicht, solange er, Skar, seine eigenen Erinnerungen noch hatte. Was geschehen war, würde immer zwischen ihnen stehen, in jedem Blick, in jeder Bewegung, jedem Wort Dels. Es würde nicht mehr derselbe Del sein, sondern ein Wesen wie die Krieger Velas, eine Puppe. Wenn er Kor-tels Vorschlag akzeptierte, würde er ihn töten, unwiderruflich töten, und was immer danach entstand, wäre nicht mehr Del.
»Nein«, sagte er.
Kor-tel nickte. Seine Hand löste sich von Dels Stirn. »Ich wußte, daß du so entscheiden würdest«, sagte er.
»Ich kann es nicht tun. Ich ... er...«
»Du brauchst nichts zu erklären, Bruder«, unterbrach ihn Kor-tel. »Wir verstehen und achten deine Gründe. Es ist eine schwere Bürde, die du übernimmst. Er wird dich hassen für das, was du getan hast.«
Skar schluckte. Sein Hals begann zu schmerzen. »Weckt ihn auf«, sagte er mühsam.
»Er wird von selbst erwachen«, sagte Kor-tel. »Doch gib ihm Zeit. Wenige Stunden, nach Tagen der Gefangenschaft.« Er schwieg einen Moment und fuhr dann, in verändertem, bedauerndem Tonfall, fort: »Du weißt, daß ihr nicht bleiben könnt?« Skar nickte. Natürlich nicht. Sie würden einen Feind im Herzen ihres Reiches nicht dulden. Und noch während er den Gedanken dachte, spürte er einen zweiten, weit schlimmeren: Es war umsonst gewesen.
Er hatte Del mitgebracht, weil er gehofft hatte, Hilfe bei den Sumpfleuten zu finden, aber er wußte auch, daß Kor-tel ihn nicht weiter als Gefangenen halten konnte. Er würde ihn gehenlassen, und wenn Del ging, mußte auch er, Skar, gehen. Der Gedanke war grausam, aber schlüssig. Sie würden dieses Land beide verlassen oder gar nicht.
»Laßt mich allein«, bat er.
Die Schatten an den Wänden verschwanden, doch Kor-tel blieb reglos sitzen und sah ihn an. »Es tut mir leid, Bruder«, sagte er. »Wir schulden dir viel, mehr, als wir gutmachen können.« Skar rang sich zu einem Lächeln durch. »Ich bin nicht gekommen, um Schulden einzutreiben«, sagte er.
»Ich weiß. Doch wer nicht fordert, fordert dadurch um so mehr. Wir werden dir helfen, wo wir können. Aber diesen Kampf mußt du allein durchstehen. Wir können ihn für dich verlieren, doch nicht gewinnen. Denke an das, was ich dir gestern nacht sagte. Die Macht von Cosh ist nichts gegen das, was in dir schlummert, Skar. Du könntest ein Gott sein, wenn du wolltest.«
»Ein Gott?« Skar lachte. Der Laut klang hohl von den gekrümmten Wänden zurück. »Oder ein Dämon?«
»Wo ist der Unterschied?«
»Ich wollte, ich wüßte es«, murmelte Skar. »Was waren die Erbauer Combats? Götter oder Dämonen?«
»Vielleicht beides«, antwortete Kor-tel. Er erhob sich nun ebenfalls, ging aber noch nicht. »Gowenna wird sich um deine Wunden kümmern, und danach ...«
»Danach gehen wir«, nickte Skar.
Kor-tel machte eine unwillige Bewegung. »Du kannst bleiben, so lange du willst«, sagte er. »Warte den Winter ab, ehe du weiterziehst.«
Skar schüttelte den Kopf. »Ich danke dir für dein Angebot, aber je eher wir von hier verschwinden, desto besser. Besser für uns und besser für euch. Wir brechen morgen bei Sonnenaufgang auf.«
Kor-tel sah ihn an, als wolle er etwas sagen, wandte sich dann jedoch wortlos um und ließ ihn allein.
Skar schloß die Augen. In seiner Brust begann sich eine Spannung aufzubauen, ein Gefühl wie ein Schrei, der hinauswollte und es nicht konnte. Hilflos ballte er die Fäuste, preßte sie gegen die Augen und krümmte sich neben Dels Lager zusammen. Umsonst. Es war alles umsonst gewesen. Er wußte plötzlich, daß er nicht mehr gewinnen konnte. Sie würden Cosh verlassen - ob morgen oder in sechs Monaten spielte keine Rolle - und der Kampf würde weitergehen.
Vela würde auf sie warten, irgendwo dort draußen.
Plötzlich, für einen ganz kurzen, vergänglichen Moment, packte ihn Zorn, ein Zorn, der so heftig war wie der Schmerz zuvor. Er richtete sich auf, warf den Kopf in den Nacken und schlug die Fäuste auf die Oberschenkel, so fest es ging.
Der dumpfe Schmerz riß ihn in die Wirklichkeit zurück. Er stand auf, wandte sich nach einem letzten Blick auf Del um und verließ die Hütte.
Gowenna kam ihm entgegen, als er auf halbem Wege zu seinem eigenen Quartier war. In ihrer Begleitung befanden sich zwei Sumpfmänner. El-tra. Sie hob die Hand, um ihn zum Stehenbleiben zu veranlassen, und vertrat ihm mit einer ärgerlichen Bewegung den Weg, als er ihr ausweichen wollte. Als er in ihr Gesicht sah, wußte er, daß sie alles gehört hatte.
»Was soll das bedeuten?« begann sie übergangslos. »Du hast dich geweigert, Del...«
»Ich habe mich geweigert, ihn umzubringen«, fiel ihr Skar ins Wort. »Und ich bin nicht bereit, mit dir darüber zu diskutieren.« Plötzlich war es so wie früher - sie war nicht mehr als eine Zielscheibe, auf die er seinen Zorn entladen konnte, und er tat es, wütend und mit einem fast sadistischen Gefühl der Befriedigung. »Wir werden gehen, Gowenna«, fuhr er in scharfem Tonfall fort, »schon morgen früh, ganz egal, ob es dir paßt oder nicht. Wir werden Cosh verlassen, und ich stelle es dir frei, uns zu begleiten oder nicht.«
Sein plötzlicher Angriff schien Gowenna vollkommen zu überraschen. Sie schwieg einen Moment, rang sichtlich nach Worten und starrte ihn fassungslos an. »Du weißt nicht, was du tust«, sagte sie schwach.
»O doch, Gowenna, ich weiß es.«
»Das weißt du nicht!« schrie sie. »Du bist irre geworden, Skar! Du kannst Del nicht Hunderte von Meilen in Ketten mit dir herumschleppen! Er ist eine Gefahr für dich und uns! Du ...« Sie brach ab. Ihre Augen weiteten sich ungläubig. »Du ... du hast nicht vor, ihn ...«
»Ich werde ihn gehenlassen, ja«, sagte Skar ruhig.
»Du willst ihn zurückschicken?« keuchte Gowenna. »Zurück zu Vela?«
»Ich werde ihn nirgends hinschicken«, verbesserte sie Skar. »Del ist nicht mein Eigentum. Ich werde ihn gehenlassen, das ist alles.«
»Du bringst uns damit alle in Gefahr!«
»O nein, Gowenna. Ich bringe euch in Gefahr, wenn ich bleibe. Du hast es selbst gesagt - ich kann ihn nicht in Ketten legen, und wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Er wird in wenigen Stunden erwachen, und er wird als freier Mann von hier fortgehen.« Gowenna wollte etwas sagen, aber Skar sprach schnell und mit erhobener Stimme weiter: »Es ändert nichts, Gowenna, gar nichts. Wir kamen hierher, um Vela zu entkommen und einen Ort zu haben, an dem wir für ein paar Tage ausruhen können. Wir hatten nicht vor, Del mitzubringen.«
»Aber er ist nun einmal hier. Er kann zu einer Gefahr werden, Skar.«
»So?« erwiderte Skar spöttisch. »Zu welcher? Was hat er gesehen? Ein paar Bäume und Büsche, sonst nichts. Er kann uns nicht schaden, nicht mehr, als wäre er die ganze Zeit bei ihr geblieben.«
»Aber du -«
»Ich glaube eher«, fiel ihr Skar erneut ins Wort, »daß es dein Stolz nicht zuläßt, ihn gehenzulassen. Was ist es, Gowenna? Macht dir dieses eine Schwert mehr, das Vela hat, solche Sorgen? Oder erträgst du einfach den Gedanken nicht, ihr einen Hieb versetzen zu können und es nicht zu tun?«
Gowenna wurde blaß. Ihre Lippen begannen zu zittern. Aber sie sagte nichts mehr, sondern wandte sich mit einer abrupten Bewegung um und verschwand zwischen den Bäumen. Einer der Sumpfmänner folgte ihr, während der andere zurückblieb und Skar kopfschüttelnd ansah.
»Das war unnötig, Skar«, sagte er. »Unnötig und grausam.« Skar musterte ihn finster. Gowenna war gegangen, aber sein Zorn war geblieben, und El-tra erschien ihm in diesem Moment als beinahe ebenso guter Prügelknabe. »Vielleicht«, grollte er. »Aber auf jeden Fall hat es gutgetan. Und es war die Wahrheit. Warum bist du geblieben? Um mir Vorhaltungen zu machen? Spar es dir - ich weiß recht gut, was ich tun und lassen muß.«