Vom anderen Ende des Platzes näherten sich vier Reiter; Sumpfmänner auf Pferden, die dem Tier Dels ähnelten wie Zwillinge. Sie nahmen dicht hinter Skar Aufstellung.
»Ist das meine Eskorte?« fragte Del abfällig.
Skar nickte. »Sie werden dafür sorgen, daß du sicher über die Grenzen Coshs kommst«, sagte er. »Richte dich genau nach ihren Anweisungen. Die Sümpfe sind tückisch.«
Del preßte seinem Pferd die Schenkel in die Seiten und ritt los. Die Reihe der Sumpfleute teilte sich vor ihm, und auch Skar wich ein Stück zur Seite, trat dann aber plötzlich wieder vor und ergriff die Zügel seines Pferdes. Del spannte sich. Seine Hand zuckte zum Schwert, führte die Bewegung aber nicht zu Ende.
»Was ist los?« fragte er. »Hast du es dir anders überlegt? Du solltest die Hand da wegnehmen, wenn du sie behalten willst.« Skar zog die Hand nicht zurück. »Nur ein Wort noch«, sagte er. »Dann kannst du reiten.«
Del wirkte plötzlich nervös. Seine Hand glitt das Stück, das sie sich in Richtung auf das Schwert bewegt hatte, zurück, aber seine ganze Haltung verriet Anspannung. Seine Selbstbeherrschung war nur gespielt. Und er war, so wie Skar, an den Grenzen seiner Kraft angelangt.
»Wir werden uns wiedersehen«, sagte Skar. »Und ich möchte, daß du dich dann daran erinnerst, daß du mir dein Leben schuldest, Satai.«
Etwas schien in ihm zu zerbrechen, als er diese Worte aussprach. Das Flackern in Dels Augen erlosch, und für einen Moment war alles, was Skar in seinem Blick las, Verblüffung und ungläubiges Staunen. Dann machte der Ausdruck einem anderem Platz, etwas, das Skar mehr traf als alles, was vorher geschehn war.
»Ich ... werde es tun, Skar«, sagte er stockend. Er riß Skar den Zügel aus der Hand, stieß dem Tier rücksichtslos die Sporen in den Leib und preschte los, gefolgt von seinen vier Begleitern. Skar sah ihm nicht nach. Lange, bevor Del die jenseitige Grenze der Lichtung erreichte und zwischen den ersten Bäumen verschwand, drehte Skar sich um und ging zu seiner Hütte zurück. Der Schmerz, auf den er wartete, kam nicht, und dort, wo Trauer sein sollte, schien nur Leere zu sein, als hätte der Hieb, den er erhalten hatte, selbst dieses Gefühl abgetötet. Gebückt trat er durch den Eingang seiner Hütte, wankte zu seinem Lager und ließ sich schwer auf die Knie fallen. Er versuchte zu denken, an irgend etwas Sinnloses zu denken, nur um die Leere hinter seiner Stirn zu vertreiben, aber es ging nicht.
Es dauerte lange, bis er merkte, daß er nicht mehr allein war. Ein Schatten war ihm gefolgt und hatte sich lautlos neben der Tür niedergelassen. Er wußte, daß es El-tra war.
»Warum hast du das getan?« fragte der Sumpfmann.
»Was?«
El-tra machte eine Geste in die Richtung, in der Del verschwunden war. »Deine letzten Worte, Skar. Ich habe sie gehört, doch ich verstehe sie nicht.«
Skar lächelte bitter. »Es hätte wenig Sinn, sie dir erklären zu wollen, El-tra«, sagte er.
»Du weißt, daß er dich dafür verachten wird.«
Skar nickte. »Vielleicht war es das, was ich wollte, Bruder. Es war ... leichter für ihn, so.«
El-tra schwieg eine Weile. »Leichter ...« wiederholte er. »Du sprichst in seltsamen Ton von einem Mann, der dich töten wird, wenn du ihm die Gelegenheit dazu gibst.«
»Vielleicht wird er es tun«, bestätigte Skar. »Aber ihn trifft keine Schuld daran. Sowenig wie dich oder mich oder irgendeinen. Vielleicht...« Er stockte, ballte hilflos die Fäuste und sprach mit veränderter Stimme weiter: »Verzeih, El-tra. Ich fürchte, ich rede einen ganz schönen Blödsinn daher.«
»Es macht nichts, Bruder. Ich weiß, was du fühlst. Auch ich habe einen Bruder verloren, vergiß das nicht.«
Einen Bruder ... War Del ein Bruder für ihn gewesen? Wohl kaum. Manchmal, vor allem in den ersten Jahren, die sie zusammen gewesen waren, hatte er sich fast wie ein Vater gefühlt, aber dieses Gefühl war bald erloschen und hatte etwas anderem, viel Komplizierterem Platz gemacht, etwas, über das er eigentlich bis heute nicht wirklich nachgedacht hatte. Selbst als er in Velas Gefangenschaft gewesen und mit Del geredet hatte, hatte er es noch nicht wirklich geglaubt. Ja, er hatte etwas verloren, aber er hätte in diesem Moment nicht sagen können, was. Nur das Gefühl des Verlustes war da. Es war da, und es war groß, und es war schrecklich.
»Vielleicht ist es besser, wenn ich dich jetzt allein lasse«, murmelte El-tra.
Skar hörte es nicht einmal.
22.
Gowenna kehrte nach Mitternacht ins Lager zurück. Skar hatte den Rest des Tages in seiner Unterkunft verbracht und war nur einmal aufgestanden, als Kor-tel hereinkam und die Verbände an seinen Beinen wechselte. Er hatte die Wunden gesehen, die der gläserne Tod geschlagen hatte - unzählige schmale, wie mit dünnen Dolchen gezogene Schnitte, die teilweise bis auf den Knochen gingen - aber der Anblick hatte ihn kaum berührt; der Schmerz in seinem Inneren war schlimmer. Lange nach Sonnenuntergang war er eingeschlafen, und es war - anders, als er erwartet hatte - ein tiefer und traumloser Schlaf gewesen, als wäre sein Geist selbst zum Träumen zu erschöpft, erschöpft von dem Kampf, der in seinem Inneren stattgefunden hatte.
Donnernder Hufschlag weckte ihn. Er fuhr auf, für einen Moment desorientiert und hilflos. Durch die dünnen Wände der Hütte drangen aufgeregte Stimmen: das Organ Gowennas, aber auch Worte in der kehligen schnellen Sprache der Sumpfleute, dazwischen das unruhige Stampfen von Pferden und das Klirren von Geschirr.
Er stand auf, warf sich die Decke, unter der er geschlafen hatte, wie einen Mantel um die Schultern und verließ die Hütte.
Die Lichtung war vom Schein zahlreicher Fackeln erhellt. Skar schätzte, daß etwa dreißig bis vierzig der Sumpfleute zusammengekommen waren; mehr als er jemals auf einmal gesehen hatte. Die meisten von ihnen drängten sich eng um Gowenna, die noch immer auf dem Rücken ihres Pferdes saß und mit erhobener Stimme auf die Menge einredete. Skar verstand die Worte nicht, aber ihrer Gestik und der erregten, schnellen Art, in der sie sprach nach zu urteilen, schienen es keine guten Nachrichten zu sein, die sie brachte.
Als sie Skar sah, sprang sie mit einer zornigen Bewegung aus dem Sattel, bahnte sich einen Weg durch die Sumpfleute und kam mit weit ausgreifenden, energischen Schritten auf ihn zu.
»Du hast es also wirklich getan!« begann sie übergangslos. Skar blinzelte. »Was?« fragte er verwirrt. »Ich habe geschlafen, bis du angefangen hast, den halben Sumpf zusammenzuschreien und -«
»Du weißt genau, was ich meine!« unterbrach ihn Gowenna. Ihre Stimme zitterte vor Erregung. Als sie näher kam, sah Skar, daß ihre Kleider in großen, dunklen Flecken an ihrem Körper klebten. Sie mußte wie von Furien gehetzt geritten sein. »Du hast ihn gehenlassen! Kor-tel hat es mir gesagt. Du hast Del fortgeschickt.«
»Ich habe ihn nicht fortgeschickt«, sagte Skar ruhig. »Er ist gegangen.«
»Hör auf!« schrie Gowenna. »Ich habe keine Lust mehr, mir deine Haarspaltereien anzuhören. Du hast ihn weggeschickt, und er ist jetzt wahrscheinlich schon auf halbem Wege zu dieser Hexe! Du verdammter Narr hattest nicht einmal genug Geduld, meine Rückkehr abzuwarten.«
Skar trat mit einem raschen Schritt auf sie zu, packte ihr Handgelenk und drückte es so kräftig, daß sich ihr Gesicht vor Schmerz verzerrte. »Ich habe dir gesagt, du sollst nicht in diesem Ton mit mir reden«, zischte er. »Was zwischen Del und mir ist, geht dich nichts an. Du bist vielleicht meine Verbündete, aber nicht mein Vormund, Gowenna.«
Aber diesmal prallte sein Zorn von ihr ab. Gowenna riß ihre Hand los, wich einen halben Schritt zurück und funkelte ihn wütend an. »Narr«, sagte sie leise. »Ich habe dich für klug gehalten, Skar, aber es scheint, daß ich mich getäuscht habe. Soll ich dir sagen, was dein Del getan hat? Dein Freund, der nur irregeleitet ist? Er hat seine Bewacher getötet, kaum daß er fünf Meilen vom Lager entfernt war. Er hat sie umgebracht, heimtückisch und brutal !«