»Und was, wenn sie nicht hierherkommt?« fragte er. »Wenn sie weiterzieht und versucht, einen anderen Weg durch die Berge zu finden?«
»Es gibt keinen«, sagte El-tra. »So wenig, wie es ein Zurück gibt. Sie wird kommen, Skar.«
Ja, dachte Skar dumpf. Und sei es nur, weil sie weiß, daß wir auf sie warten. Aber das sprach er nicht laut aus.
25.
Gowenna weckte ihn, als die Sonne aufging.
Das Erwachen war schwierig, ein mühsamer Kampf gegen Müdigkeit und Erschöpfung, die sich in seine Muskeln gekrampft hatten, aber auch wieder nicht so schwer, wie er erwartet hatte.
Er setzte sich auf, stützte die Ellbogen auf die Knie und verbarg für einen Moment das Gesicht in den Handflächen. Um ihn herum waren Geräusche: Schritte, das Klirren von Metall, das unruhige Wiehern von Pferden, denen das Eingesperrtsein in dem steinernen Gewölbe mit seiner Kälte und seinen Geräuschen Furcht bereitete. Von irgendwoher wehten Wärme und ein schwacher Geruch nach Essen zu ihm.
»Wirst du von selbst wach, großer Krieger, oder soll ich einen Eimer Wasser holen?« fragte Gowenna. Ihre Stimme klang ungeduldig, aber auch amüsiert. Skar nahm die Hände herunter, sah sie einen Moment lang aus müden, verschleierten Augen an, gähnte ungeniert. »Eine vorgewärmte Decke und ein kräftiges Frühstück wären mir lieber«, erklärte er. »Aber damit kannst du nicht dienen, fürchte ich.«
Gowenna lächelte flüchtig. Skar fand, daß sie an diesem Morgen schöner war als zuvor; die Erschöpfung hatte das, was von ihren Zügen übrig war, gezeichnet, aber sie wirkte gleichzeitig auch entspannt, beinahe gelöst. Vielleicht weil die Zeit des Wartens und der Ungewißheit vorbei war und die Entscheidung jetzt fallen würde. »Du wirst mit dem vorlieb nehmen müssen, was wir haben«, sagte sie. »Kaltes Wasser und eine Brühe. Cosh ist nicht gerade für seine Küche berühmt«, fügte sie mit einem neuerlichen Lächeln hinzu.
Skar lachte ebenfalls, stand auf und reckte sich ausgiebig. Seine Gelenke knackten, und sein Rücken schmerzte vom Schlafen auf dem nackten, unebenen Felsboden, aber er spürte auch, daß die fast fünfzehn Stunden, die er geruht hatte, ihm wenigstens einen Teil seiner normalen Kraft und Geschmeidigkeit wiedergegeben hatten.
»Ist es schon soweit?«
Gowenna verneinte. »Wir haben Kundschafter ausgeschickt, Skar. Sie hat den Besh überschritten, doch es wird noch Stunden dauern, ehe sie hier ist. Zeit genug.«
»Zeit genug?« Skar bückte sich nach seinem Umhang und schlang ihn fröstelnd um die Schultern. Das Innere der Festung bestand aus einem einzigen großen zugigen Raum, in dem es nur wenig wärmer war als draußen. Sie hatten Feuer angezündet, aber die klammen Felswände hatten die Wärme schneller verschluckt, als die Flammen sie erzeugen konnten. »Wozu?«
Gowenna zuckte mit den Achseln. »Eine letzte Mahlzeit, ein Gebet, Zeit, uns auf den Angriff vorzubereiten ...«
»Jetzt wirst du pathetisch«, unterbrach Skar sie.
Sie lachte wieder, aber Skar spürte, daß ihre Fröhlichkeit nichts als eine weitere Maske war, Schutz vor der Hysterie, die dicht unter ihrer Oberfläche lauerte. Die Chancen, daß sie beide den nächsten Sonnenaufgang erleben würden, standen eins zu hundert, und Gowenna wußte das ebensogut wie er.
»Sagtest du nicht etwas von Essen?«
»Oh, natürlich.« Gowenna eilte davon und kam nach wenigen Augenblicken mit einer flachen Holzschale zurück. Die Brühe, von der sie gesprochen hatte, erwies sich als dünne, zum Großteil aus Wasser bestehende Suppe, in der dünne Stränge eines graugrünen Gemüses und ein paar einsame Fleischstücke trieben. Und ihr Geschmack war ungefähr das Schlechteste, was Skar jemals gekostet hatte. Aber sie war warm, und sie stillte wenigstens den ärgsten Hunger. Skar ließ sich mit überkreuzten Beinen auf sein Lager sinken und begann tapfer zu essen.
Gowenna sah ihm eine Weile schweigend zu, und ein seltsames vertrautes Gefühl machte sich in ihm breit. Das Gefühl - so aberwitzig es in ihrer Situation und Umgebung erschien - geborgen zu sein, und sei es nur die Geborgenheit, die die Anwesenheit einer vertrauten Person vermittelte. Aber er wußte auch, daß dieses Gefühl, so wie alles, was er im Moment zu spüren glaubte, nicht echt war. Die Kluft zwischen ihnen war zu groß. Sie würden sie nicht überbrücken können, selbst wenn sie es wollten. Es war die Gefahr, die ihnen beiden für den Augenblick noch einmal etwas vorgaukelte, das Wissen um den bevorstehenden Tod, das sie glauben ließ, für ein paar kurze Momente noch einmal so etwas wie Glück zu empfinden.
»Ich hätte dir gern etwas Besseres angeboten«, sagte Gowenna, als er mit seiner Mahlzeit zu Ende war und die Schüssel abstellte. »Ein Krieger sollte nicht mit knurrendem Magen in die Schlacht ziehen.«
Skar lächelte aufmunternd. »Wir holen die Siegesfeier nach«, sagte er. »Morgen. Vielleicht mit gebratenem Drachen.«
Gowenna wurde übergangslos ernst. »Glaubst du, daß wir eine Chance haben?« fragte sie leise.
Skar sah sekundenlang an ihr vorbei zum Ausgang, ehe er antwortete. Rotes Sonnenlicht füllte das niedrige Rechteck aus und versah es mit einem Glorienschein von Blut. Es erschien ihm wie ein schlechtes Omen. »Was willst du hören?« fragte er. »Eine ehrliche Antwort oder eine Ermunterung?«
»Oh«, erwiderte Gowenna. »Ich glaube, das reicht schon.« Skar lachte, aber diesmal klang es nicht sehr heiter. »Ich weiß einfach nicht, was geschehen wird«, sagte er nach einer Weile. »Wenn sie wirklich hierherkommt und in die Falle tappt, dann werden wir sie schlagen. Wenn ...«
»El-tra sagt, sie hätte keine Wahl. Es gibt nur diesen Weg.«
»Das ist es ja, was mir Sorgen macht«, knurrte Skar. »Sie wäre nicht die Frau, die wir beide kennen, wenn sie die Falle nicht ahnen würde. Und auch wenn sie keine Wahl hat - eine Falle, die man erkennt, kann leicht umgedreht werden, so daß sie den schlägt, der sie aufgestellt hat.«
»Eine alte Satai-Weisheit?«
Skar schüttelte den Kopf. »Nein. Das gehört zu den Grundlagen des Überlebens.« Er reckte sich, beugte sich im Sitzen hinüber und nahm seinen Schwertgurt auf. Der Griff seines Tschekal war mit einer glitzernden Raureifschicht überzogen. Er band den Gurt um, zog die Waffe aus der Scheide und begann sie mit einem Zipfel seines Mantels zu polieren. »Aber vielleicht hast du recht«, fuhr er, den Gedanken wieder aufnehmend, fort. »Selbst wenn sie weiß, daß wir hier auf sie warten, wird sie nicht sehr viel dagegen tun können. Und die Karten sind nicht schlecht verteilt - vierzig Sumpfleute gegen die gleiche Anzahl von Kriegern Velas ...« Er lachte, ließ sein Schwert sinken und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das einzige, was mir Sorgen bereitet, ist der Drachen.«
»Nicht einmal er ist stark genug, diese Mauern einzureißen«, sagte Gowenna. »Und wenn sie so wahnsinnig ist, es trotzdem zu versuchen, töten die Sumpfmänner ihn. Auch er ist nur ein Lebewesen, kein Dämon.«
Es hätte viel gegeben, was Skar ihr hätte entgegenhalten können, aber er tat es nicht. Sie war länger mit Vela zusammengewesen und wußte besser als er, über welche Möglichkeiten die Errish verfügte, und wenn sie im Moment vorzog, alles zu vergessen, was sie gemeinsam erlebt hatten - angefangen von ihrer Begegnung mit den Hornkriegern bis hin zu ihrer verzweifelten Flucht durch den Kristallwald -, so hatte er nicht das Recht, ihr zu sagen, was sie nicht hören wollte.
Er fuhr fort, seine Waffe zu polieren, steckte sie schließlich in die Hülle zurück und stand auf. Ein trügerisches Gefühl von Sicherheit und Kraft durchströmte ihn. »Wir sollten sehen, ob wir El-tra und den anderen helfen können.«
Hintereinander verließen sie das Gebäude, Das Bild, das sich Skar bot, hatte kaum mehr etwas mit dem vom vergangenen Mittag gemein - die Sumpfmänner hatten den Hof gesäubert, Steine und Felstrümmer beiseitegeschafft und einen Teil der zerborstenen Wehrgänge wieder aufgebaut, notdürftig, wie Skar mit einem raschen Blick erkannte, aber fest genug, um einem ersten Ansturm standzuhalten. Die schmale Steintreppe, die zur Mauerkrone hinaufführte, war niedergerissen und durch eine Strickleiter ersetzt worden. Hinter den Zinnen lehnten Waffen: Speere, Armbrüste und Wurfgeschosse; eine Anzahl der gezackten, fürchterlichen Schwerter der Sumpfleute.