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Erneut brach sie ab, und jetzt spürte Skar, daß sie nicht weiterreden würde, daß sie zu erschöpft dazu war, aber auch alles gesagt hatte, was es im Moment zu sagen gab. Ihre Geschichte war noch nicht zu Ende, noch lange nicht, und er hatte längst nicht alles erfahren. Und doch hatte sie ihm mehr, viel mehr erzählt, als er hatte wissen wollen. Einiges, was er geahnt, und vieles, was ihn überrascht hatte. Nichts davon war wirklich wichtig gewesen. Wichtig war das, was sie nicht ausgesprochen, dafür aber um so deutlicher gesagt hatte.

Sie glaubte, Vela zu hassen, aber das stimmte nicht. Im Gegenteil, sie liebte sie noch immer, vielleicht jetzt mehr als zuvor. Nach einer Weile stand er auf und ging, ziellos und nur von dem Wunsch erfüllt, allein zu sein, zu der niedergebrannten Feuerstelle am anderen Ende des Kraters hinüber. Die Flammen waren zu einem Häufchen schwach glimmender Glut geworden und wärmten nicht mehr, und die beiden Bratenscheiben, die noch immer an einem Stock über der Feuerstelle hingen, waren schwarz und verkohlt. Erst jetzt kam ihm richtig zu Bewußtsein, wie lange er neben Gowennas Lager gesessen und ihr zugehört hatte; eine Stunde, vielleicht mehr. Sie hatte sehr langsam gesprochen, aber ihr Bericht hatte ihn so in seinen Bann geschlagen, daß er das Verstreichen der Zeit kaum mehr bemerkt hatte.

Skar kauerte sich im Schutz der Felswand zusammen, zog den Mantel enger um die Schultern und sah nach Osten. Es dämmerte, und am Horizont, weit hinter dem wabernden Feuerpilz Combats, begann sich das erste zaghafte Grau zu zeigen: ein dünner, verlorener Streifen, der von dem brüllenden Feuergiganten davor zur Lächerlichkeit degradiert wurde. Der Wind wurde kälter und verspottete die lodernde Glut, und der Schnee fiel jetzt dichter, selbst hier unten, im Schutz der Felswände. Sicher wäre es vernünftiger gewesen, die wenigen kostbaren Minuten, die ihm noch blieben, zu nutzen, um zu schlafen oder wenigstens auszuruhen, aber Skar wußte, daß dann die Alpträume wiederkommen würden, und er hatte Angst davor. So stand er nach wenigen Augenblicken wieder auf und ging zu den beiden Sumpfleuten.

Der Wind traf ihn mit voller Wucht, als er aus dem Schutz des Kraterwalles heraustrat, aber nicht nur der Wind traf ihn, sondern auch der Gluthauch Combats, der selbst über die große Entfernung hinweg noch deutlich zu spüren war. Hastig vergrub er die Hände unter seinem Mantel und ging mit schnellen Schritten auf die El-tra zu. Sie standen, zusammen mit den Pferden, im Windschutz eines zusammengefallenen Mauerrestes, aber es gab hier nur die Wahl zwischen der klirrenden Kälte des Eissturmes, der vom Gebirge herabfauchte, auf der einen und dem Glutatem der brennenden Stadt auf der anderen Seite. Es gab kein Dazwischen, keinen noch so winzigen Fleck des Ausgleichs, sondern nur Extreme, so wie alles in diesem Teil der Welt extrem zu sein schien, und die eher an Wärme als an Kälte gewöhnten Sumpfmänner hatten sich - wie nicht anders zu erwarten - auf der windabgewandten Seite des Mauerstückes postiert. Skar konnte im unsicheren Licht der heraufziehenden Dämmerung nicht erkennen, was sie taten. Ihre Bewegungen, ohnehin nur schwer zu bestimmen, wurden zu einem huschenden Hin und Her zwischen tanzenden Lichtflecken und flackernden grauen Schatten. Die Pferde waren unruhig. Die Hitze mußte ihrer empfindlichen Haut Schmerzen bereiten, und das unablässige Heulen des Sturmes, für Skar und die anderen schon so zur Gewohnheit geworden, daß sie es kaum mehr bewußt wahrnahmen, schien sie allmählich zur Raserei zu treiben. Die Schattenmänner hatten die schweren Leder- und Stahlpanzer entfernt, in die die Tiere gehüllt gewesen waren, und aus den schwarzen Ungeheuern, denen sie sich vor zwei Tagen gegenübergesehen hatten, waren wieder Pferde geworden. Aber unter den wuchtigen Rüstungen war noch mehr zum Vorschein gekommen: Skar sah mit Schrecken die unzähligen wunden Stellen, die trüb entzündeten Augen und die schnellen, mühsamen Stöße, mit denen der Atem der Tiere ging. Für einen Moment fragte er sich ernsthaft, ob diese Pferde überhaupt noch die Kraft hatten, ein Kind zu tragen, geschweige denn einen ausgewachsenen Mann. Ihre Chancen standen schlechter, als er geglaubt hatte. Er bückte sich, hob einen der massigen schweren Brocken auf, die den Boden so weit er sehen konnte wie scharfkantiger schwarzer Schnee bedeckten, und drehte ihn unschlüssig in den Händen. Der Brocken war heiß, heiß und schwerer, als er hätte sein dürfen, und Skar erkannte, daß es sich nicht, wie er bisher angenommen hatte, um Lava handelte, sondern um geschmolzenes und zu einer krumigen schwarzen Masse zusammengefallenes Metall.

»Du solltest das nicht anfassen«, sagte eine Stimme hinter ihm. Skar schrak so heftig zusammen, daß ihm der Brocken entglitt und auf den Boden zurückfiel. Das Heulen des Sturmes hatte die ohnehin leisen Schritte El-tras verschluckt, und Skar hatte dadurch nicht gemerkt, daß der Sumpfmann hinter ihn getreten war. »Man sagt, dieses Land atme den Tod aus«, fuhr El-tra fort. »Berühre nicht mehr davon, als nötig ist.«

»Was meinst du damit?«

El-tra deutete ein Schulterzucken an; eine Geste, die Skar noch nie an ihm oder einem seiner Brüder beobachtet hatte und die er sich vielleicht nur zulegte, um in Skars Augen menschlicher zu erscheinen - seltsamerweise schien sie den Unterschied eher zu betonen, statt ihn zu verwischen. »Man nennt die Ebenen von Tuan auch das Tote Land«, sagte er. »Doch was tot ist, muß auch einmal gelebt haben.« Damit wandte er sich um und ging wieder zu den Pferden hinüber, ohne mehr Zeit mit weiteren Erklärungen zu verschwenden.

Skar sah ihm mit einer Mischung aus Ärger und Erheiterung hinterher. Er hatte sich daran gewöhnt, von den El-tra selten eine klare Antwort auf eine klare Frage zu bekommen. Aber er wußte auch, daß sie niemals etwas Überflüssiges oder Dummes sagen würden. Reden nur um den Redens willen schien den Sumpfmännern unbekannt zu sein.

»Was tot ist, muß auch einmal gelebt haben ...«, wiederholte er El-tras Worte, und plötzlich, als er sie zum zweiten Mal und mit seiner eigenen Stimme gesprochen hörte, spürte er den dunklen, unheilschwangeren Unterton, der darin mitschwang.

Vielleicht, dachte er, lebte es noch, nur auf eine Weise, die sie niemals begreifen würden. Vielleicht waren sie die Toten.

2.

Die Ebene war endlos. Sie waren kurz nach Sonnenaufgang losgeritten, aber Skar wußte längst nicht mehr, wieviel Zeit seither vergangen war. Es wurde nicht hell; nicht wirklich. Der Schneesturm hatte noch an Kraft zugenommen, und wenn er auch, durch eine gnädige Laune der Natur, erst in hundert oder mehr Manneslängen Höhe seine volle Wucht entfaltete und sie hier am Boden nichts als einen schwachen Hauch seiner wirklichen Macht spürten, so war der Himmel doch hinter einer grauweißen, wirbelnden Decke verborgen, unter der sie wie unter der Kuppel eines gewaltigen natürlichen Gewölbes nach Süden krochen, und der Tag schien nichts als eine Fortsetzung der Dämmerung zu sein, so wie die Landschaft, durch die sie ritten, eine getreuliche Wiederholung jener Gegend war, durch die sie auf dem Weg vom Gebirge nach Combat und zurück gekommen waren. Skar hatte es längst aufgegeben, nach irgendwelchen Zeichen oder besonderen Landmarken Ausschau zu halten. Sie ritten durch eine Apokalypse, eine bizarre Vision des Weltuntergangs, schlimmer, als sie sich jede Phantasie hätte ausmalen können. Der Boden bestand aus schwarzgeschmolzenem Glas, und jeder einzelne Hufschlag ihrer Pferde erzeugte einen hellen, harten Ton, als würde ein Spiegel zerschlagen. Die schwarzen Lavabrocken lagen auch hier noch in großer Zahl, wenn auch nicht mehr ganz so zahlreich wie in der unmittelbaren Nähe Combats, und sie passierten immer wieder die zerfallenen Überreste einstiger Gebäude; Opfer der Zeit und des beständig heulenden Windes, der seit Urzeiten mit ungebändigter Kraft von den Bergen herunterraste; manchmal aber auch zermalmt, zerschmolzen von den Urgewalten, die dieses Land verbrannt und verstümmelt hatten.