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»Dort oben ist El-tra.« Gowenna deutete auf eine der grauen Gestalten hinter den Zinnen und setzte sich in Bewegung.

Skar folgte ihr. Er hatte es längst aufgegeben, sich zu fragen, woran Gowenna den Sumpfmann erkannte. Für ihn waren sich die Männer aus Cosh noch immer ähnlich wie ein eineiiger Zwilling dem anderen.

Sie überquerten den Hof und stiegen hintereinander die Strickleiter hinauf. Der hölzerne Boden des Wehrganges bebte unter Skars Gewicht, als er den Fuß daraufsetzte, und ein paarmal lösten sich trockener Mörtel und kleinere Steinbrocken, um polternd auf den Hof hinabzustürzen. Aber im großen und ganzen war die Konstruktion in einem besseren Zustand, als Skar befürchtet hatte. Die Jahrhunderte hatten ihre Spuren hinterlassen und ihren Tribut gefordert, doch die Festung war nicht gefallen. Obwohl eine Ruine, war sie noch immer stark.

El-tra begrüßte ihn mit einer freundlichen Geste. Von der Schwäche, die Skar am vergangenen Tag an ihm bemerkt hatte, war nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil, wie Gowenna und auch er selbst schien El-tra von vibrierender, nur mühsam zurückgehaltener Aktivität erfüllt zu sein. Und nicht nur er. Auch von den anderen Sumpfleuten schienen Müdigkeit und Erschöpfung abgefallen zu sein wie abgelegte Kleidungsstücke.

Skar begann sich zunehmend unbehaglicher zu fühlen. Er kannte Situationen wie diese nur zu gut. Er hatte sie erlebt, unzählige Male vor unzähligen Schlachten, die er ausgetragen hatte: Männer, die lachend und mit Begeisterung in den Kampf zogen, vor Erregung bebten, den Augenblick, in dem sie dem Gegner ins Auge schauten, kaum erwarten konnten.

Die meisten von ihnen hatten die Schlacht nicht überlebt.

»Bist du mit unseren Vorbereitungen zufrieden?« fragte El-tra. Skar nickte. »Perfekt, bedenkt man die Kürze der Zeit, die ihr hattet. Ich hätte es nicht besser machen können.« Aber das hieß nicht, daß er zufrieden war. Die Falle war perfekt, ein strategisches Planspiel, eines Meisters der Kriegskunst würdig. Aber Vela war eine hervorragende Spielerin.

Er trat mit einem raschen Schritt an El-tra vorbei, legte die Hände auf den zermürbten Stein der Zinnen und sah nach Osten. Als sie hergekommen waren, war ihm nicht aufgefallen, wie steil der Weg bis zur Festungsmauer anstieg. Jeder Angriff würde schon auf der Hälfte des geröllübersäten Hanges seinen Schwung verlieren; und es gab bis auf fünfhundert Fuß vor der Mauer nichts, was auch nur einem Hund hätte Deckung gewähren können.

Er beugte sich vor, sah in die Tiefe und nickte ein weiteres Mal anerkennend. Das Kastell hockte wie ein Ungeheuer aus grauem Fels über dem Hang. Zu beiden Seiten zogen sich senkrechte, wie poliert wirkende Felswände hundert Fuß und mehr in die Höhe. Der einzige Weg führte direkt am Kastell vorbei. Es war schlichtweg unmöglich, den Hang zu überwinden, ohne das Kastell vorher zu stürmen.

Trotzdem war er nicht beruhigt, im Gegenteil. Er richtete sich auf, fuhr sich mit einer nervösen Geste über Kinn und Mund und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen nach Osten.

»Wie lange wird es noch dauern?« fragte er.

»Bis sie hier sind?« El-tra schwieg einen Moment. »Zwei Stunden. Vielleicht drei.«

»Ihr habt Späher ausgesandt?«

El-tra nickte. »Späher und Bogenschützen. Fünf Mann auf jeder Seite.« Er deutete auf die lotrecht abfallenden Felsen, die das untere Ende des Hanges flankierten; eine zweite, von der Natur errichtete Festung, so uneinnehmbar wie die, in der sie waren. El-tras Bogenschützen konnten den Hang in eine Todesfalle verwandeln.

»Du läßt ihr nicht die geringste Chance, wie?« fragte er leise. »Sollte ich?«

Skar antwortete nicht. Es war das alte Problem: Man konnte einen Gegner schlagen, ihm jeden nur denkbaren Schaden zufügen - aber es war nicht immer klug, ihn in die Enge zu treiben. Wie im Kampf Mann gegen Mann hatte Skar auch im Feld fast immer selbst dafür gesorgt, daß dem Feind eine letzte Möglichkeit zur Flucht offenblieb. Ein Gegner, der keinen Ausweg mehr sieht, neigt zu Verzweiflungstaten.

Trotzdem schüttelte er nach einer Weile den Kopf und trat von der Brüstung zurück. Der Errish eine Chance zu lassen, hieße mit fast hundertprozentiger Sicherheit den Sieg zu verspielen.

»Nein«, sagte er noch einmal. »Ihr habt gute Arbeit geleistet. Ich glaube, wir können jetzt nur noch warten.«

»Unsere Späher werden uns warnen, wenn sie näher kommt«, sagte El-tra. »Du kannst zurückgehen und im Inneren der Festung warten. Ich lasse dich rufen.«

Skar lehnte ab. Es war kalt und ungemütlich hier oben auf der Mauer, aber unten in den düsteren, fensterlosen Hallen der Festung wäre er sich wie lebendig begraben vorgekommen. Hier draußen konnte er wenigstens frei atmen. Wieder glitt sein Blick den Hang hinunter und verweilte auf dem schmalen Spalt im Fels, dem einzigen Weg hier herauf. Es hatte geschneit, wie El-tra prophezeit hatte, und ihre Spuren waren verschwunden, als hätte es sie niemals gegeben. Er hob den Kopf und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen zur oberen Kante der Felsen hinauf, aber obwohl er wußte, wonach er zu suchen hatte, konnte er nicht die geringste Spur von Leben entdecken. El-tras Bogenschützen schienen mit dem Gestein verschmolzen zu sein.

»Du bist nervös«, sagte Gowenna leise.

Skar nickte, ohne den Blick von den Felsen zu wenden. »Zwei Stunden sind eine lange Zeit, Gowenna.«

»Du fürchtest dich, nicht?« fragte Gowenna. »Nicht vor dem Kampf oder der Begegnung mit Vela. Du hast Angst, Del wieder gegenüberzustehen.« Sie trat neben ihn und lehnte sich schwer gegen die Brüstung. »Was ich in Cosh gesagt habe, tut mir leid«, sagte sie. »Ich war zornig, und ich war erschrocken, als ich sah, daß Del fort war.«

Skar drehte den Kopf und sah sie an. Sie schien eine Antwort zu erwarten, etwas ganz Bestimmtes - vielleicht nur ein Lächeln, ein Wort; es hätte viel gegeben, was er hätte tun oder sagen können, ohne sich dabei etwas zu vergeben. Aber er hatte nicht vergessen, daß ihr Messer an Dels Kehle gewesen war.

»Es ist nicht der Moment, zu lügen, Gowenna«, murmelte er. Sie hielt seinem Blick einen Herzschlag lang stand und sah dann zu Boden.

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte sie. Dann drehte sie sich mit einem Ruck um und ging.

Skar dachte einen Moment daran, sie zurückzurufen, aber sie war bereits den Wehrgang und die Strickleiter hinuntergestiegen, ehe er den Entschluß endgültig gefaßt hatte.

Rings um ihn fuhren die Sumpfmänner fort, sich auf die Schlacht vorzubereiten, aber Skar fühlte sich seltsam isoliert, ausgeschlossen, als ginge ihn dies alles nichts an. Er war ein Fremder, nicht mehr als ein im Grunde unbeteiligter Zuschauer. El-tra hatte recht. Es war nicht sein Kampf. Was hier geschehen würde, ging ihn nichts an.

Lange, sehr lange stand er reglos hinter den Zinnen der zerborstenen Wehrmauer. Er dachte nicht, nicht bewußt. Aber langsam, allmählich und fast, ohne daß er sich dessen selbst bewußt wurde, reifte ein Entschluß in ihm. Etwas, das irgendwie mit dem Ding in ihm verkettet schien, ein schwaches Echo auf die Präsenz seines Dunklen Bruders. Dieser war erwacht, endgültig, schon vor langer, langer Zeit, ohne daß Skar es selbst bemerkt hätte, aber jetzt spürte er ihn wie einen großen, schweigenden Schatten, der hinter seinen Gedanken lauerte, eine Gewalt, ungleich stärker, als selbst Vela ahnte. Wie hatte Kor-tel gesagt? Wende es richtig an. Es kann uns den Sieg bringen - oder uns alle vernichten. Er hatte geglaubt, es nicht zu können, aber das stimmte nicht. Der Bruder war wach, war es die ganze Zeit gewesen, und gerade sein Schweigen hätte ihm dies deutlich machen müssen. Aber anders als die Male zuvor würde er diesmal nicht Gewalt über ihn erlangen, nicht, ehe er es selbst wollte.