Galina Iwanowna blieb sitzen und war sehr verlegen.»Genügt das nicht?«fragte sie mit umwerfendem Charme.
«Nein. «Dr. Lallikow rückte an seiner starken Brille.»Bei einer Untersuchung gibt es Unwichtiges, Wichtiges und sehr Wichtiges. Der Arzt allein kann das beurteilen. Dafür ist er ja Arzt. Du bist dabei, sehr Wichtiges der ärztlichen Beurteilung zu entziehen. Das ist fast ein asoziales Verhalten. Du stehst im öffentlichen Leben. Gesundheit ist ein Fundament unseres Fortschritts. Also.«
«Ich bitte um Verzeihung, Genosse Doktor«, sagte Galina Iwanowna leise.»Aber ich schäme mich.«
«Vor deinem Arzt? Seit wann denn?«
«Seit neunzehn Tagen.«
Dr. Lallikow starrte die schüchterne Schönheit verblüfft an, zog einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber.»Das mußt du mir erzählen«, sagte er väterlich.»Hat dich vor neunzehn Tagen etwas verändert?«
«Ja.«
«Körperlich?«
Galina Iwanowna nickte schüchtern.»Ja. «Das war wie ein Hauch.
«Auch seelisch?«
«Vielleicht.«
«Öffne dein Herz«, sagte Dr. Lallikow gütig. Er merkte gar nicht, daß er damit in das Revier des Popen geriet.
«Mein Verlobter kam von einem Boxkampf aus Swerdlowsk zurück.«
«Meister Lagatin?«
«Ja. «Galina schluckte krampfhaft.»Und er brachte eine Zeitschrift mit. Aus dem dekadenten Westen. Aus Paris. Völlig dekadent, Genosse Doktor. Unmöglich, diese Fotos. Aber irgendwie interessant.«
«Ha!«Dr. Lallikow spürte, wie sich der große Kreis rundete. Seine Brillengläser beschlugen wieder, er nahm sie von der Nase und putzte sie mit Hilfe des Zipfels seines weißen Arztkittels.»Und was geschah weiter?«
«Ich schäme mich so.«
«Vor deinem Arzt, Galina Iwanowna?«
«Lagatin sagte: >Das solltest du auch mal machen.««Galina bedeckte mit beiden Händen ihr Gesicht. Sie schämte sich wirklich in Grund und Boden.»Da habe ich es gemacht.«
«Aha«, sagte Dr. Lallikow.
«Lagatin fand es sehr schön. Ich gar nicht. Ich bin keine aus dem dekadenten Westen. Aber Lagatin sagte: >Ganz still, es weiß ja keiner. Das ist unser Geheimnis. Es kommt ja wieder…««
«Na ja. «Dr. Lallikow räusperte sich.»Ich habe Verständnis dafür — das vorweg! Die forschende Jugend. Der Reiz des Neulandes. Beruhige dich, Galina Iwanowna, es bleibt ja unter uns.«
«Jetzt ziehe ich mich aus«, sagte sie und erhob sich vom Hocker.
Dr. Lallikow winkte großzügig ab.
«Nicht mehr nötig. Die Anamnese war überzeugend.«
«Ist das der Name dafür?«
Dr. Lallikow räusperte sich erneut, erhob sich auch und stieß die Tür zur Kabine auf. Marfa Felixowna saß hinter dem Schreibtisch und füllte eine Karteikarte aus.
«Die Genossin Galina ist gesund«, erklärte Dr. Lallikow herrisch wie immer.»Sie bekommt ihr Gesundheitszeugnis. Keine Beanstandungen. Eine Wiedervorführung ist in absehbarer Zeit nicht notwendig. «Er zögerte, drehte sich zu Galina Iwanowna um und betrachtete sie forschend, während sie sich wieder anzog. Dieser verfluchte Jankowski, dachte er. Der Bräutigam macht es, und er fotografiert es. Welch simple Verteilung des Genusses!
«Ihr seid viel mit dem Genossen Jankowski zusammen?«fragte er leichthin.
Galina nickte. Sie zog gerade ihre Söckchen an.»Er ist unser Freund.«
«Victor Semjonowitsch kann gut fotografieren, nicht wahr?«
«O ja. Er hat einen vorzüglichen Apparat.«
«Wer wagt das zu bestreiten?«Dr. Lallikow rückte seine dicke Brille zurecht, setzte sich an seinen Tisch und genoß die Befriedigung, diesen delikaten Fall so elegant gelöst zu haben. Er konnte Kasu-tin nun davon unterrichten, daß Nowo Korsaki nicht in den Sog verderblicher westlicher Tendenzen geraten würde.
Aber mit dem Genossen Jankowski mußte man sprechen. Unbedingt!
Solche Fotos gibt man nicht zum Vergrößern in der eigenen Stadt ab!
Das ist eine unverzeihliche Dummheit, unwürdig eines intelligenten Menschen, wie Victor Semjonowitsch einer war.
Eigentlich war es nun verschwendete Zeit, sich auch noch um die schöne Witwe Sitkina und die blöde Herrlichkeit Rimma Ifanowna zu kümmern, nachdem für Dr. Lallikow feststand, daß Galina die Unbekannte ohne Kopf auf den unanständigen Fotos war. Aber Lal-likow war ein Gründlichkeitsfanatiker. Der Vollständigkeit halber mußte man alle auf der Liste abhaken, und an der Reihe war jetzt die rothaarige Rimma.
Hätte Dr. Lallikow doch bloß darauf verzichtet! Seiner Gründlichkeit war ja auch der Vorsitzende, der ehrenwerte, jedoch nun entmannte Boris Nikolajewitsch Werschokin, zum Opfer gefallen, und es hatte Lallikow seinen weiteren Aufstieg in der Chirurgie gekostet. Wer kann aber schon über seinen eigenen Schatten springen, vor allem, wenn er von seiner Mission geradezu reformatorisch erfüllt ist?
Da man Rimma als Korbflechterin nicht zur Erstellung eines Gesundheitszeugnisses vorladen konnte, machte sich Dr. Lallikow nach einem ausgiebigen Mittagessen auf den Weg zur weiteren Erforschung
der Wahrheit.
Rimma Ifanowna bewohnte ein kleines Haus an der Peripherie von Nowo Korsaki, dort, wo vor vierzig Jahren noch Urwald gewesen war und Rimmas Eltern ihre Felder gerodet hatten. Es waren arme, aber ehrliche Leute gewesen, die sich krumm gearbeitet hatten für ihr tägliches Brot, und deren einziger Kummer nur ihr Töchterchen gewesen war. Nachdem Rimma ihren unglücklichen Fenstersturz erlitten hatte und seitdem mit dem logischen Denken in ständigem Hader lag, sagten sich die Eltern, daß es Ärgeres gäbe als ein Mädchen, das mehr grinste als sprach. Und es wurde in der Tat noch ärger, denn Rimma entwickelte sich zu einer solch einsamen Schönheit, daß die Burschen ihr rundherum auflauerten und geradezu Jagd machten auf diese rothaarige Pracht. Ein paarmal schoß Väterchen mit der Schrotflinte auf allzu geile zweibeinige Böcke, aber dann raffte ihn eine Lungenentzündung hinweg, und auch die Mutter überlebte diese Katastrophe nur um ein halbes Jahr.
Nun war Rimma Ifanowna allein und machte aus ihrer Beschäftigung einen Beruf: Sie flocht Körbe und verkaufte sie auf dem Markt. Das Geschäft lief so gut, daß sie noch zwei alte Frauen einstellte und es sich leisten konnte, ein Motorrad zu fahren. So blöd war sie nicht, um dieses Fahrzeug nicht zu beherrschen. Vor allem aber sah man mit Verblüffung, daß sie sich ihrer Schönheit voll bewußt war und ihre Tugend so tapfer zu verteidigen verstand, daß bis zur Stunde sich niemand brüsten konnte, Rimma Ifanownas gesamte glatte Haut zu kennen. Zwar munkelte man, sie fahre nicht nur wegen des Großhandelszentrums nach Magnitogorssk und bringe neue Aufträge mit, aber beweisen konnte niemand etwas. Rimma war immer freundlich, lächelte in ihrer leicht blöden Art jeden an, wurde von Jahr zu Jahr schöner und hatte jetzt, mit sechsundzwanzig Jahren, eine Reife erlangt, die zu Superlativen an Lobpreisungen Anlaß gab. Im Sommer konnte man das ab und zu von weitem bewundern: Da hüpfte sie in einem engen Badeanzug im Garten herum, stellte sich unter eine Dusche, und ihr helles Lachen vergoldete die Sonne noch mehr. Dazu leuchtete ihr feuerrotes Haar. Es war ein Anblick, der jeden Mann nach innen seufzen ließ.
Natürlich hatte auch der Geologe Jankowski die Bekanntschaft mit Rimma Ifanowna gemacht. Nach seinen Zeichnungen flocht sie Spezialkörbe, in denen er Gesteinsproben sammelte und sortierte. Das war ein raffinierter, unverfänglicher Anlaß, öfter bei Rimma vorzusprechen und sogar ins Haus zu gehen.
So jedenfalls rekonstruierte Dr. Lallikow den Angriff Jankowskis auf Rimmas Tugend, und Kasutin und Babajew stimmten ihm zu. Nur so hatte es geschehen können, daß Rimma — bisher noch rein theoretisch — über Zeichnungen für Spezialkörbe zum Modell für unanständige Fotos abgesunken war. Jankowskis Art, selbst Frauen, die sich wie Schnecken in ihre Häuser zurückzogen, von entarteten Dingen zu überzeugen, war sattsam bekannt geworden.