Es begann ganz harmlos: Victor Semjonowitsch Jankowski gab bei dem Fotografen Babajew einen Rollfilm ab, zwölf Aufnahmen 6x6.
«Es wäre mir lieb, Genosse«, sagte Jankowski dabei,»wenn Sie die Bilder auf 18x18 vergrößern könnten. Das ist doch möglich?«
«Wenn Sie es wünschen, mache ich ein Plakat, so groß wie eine Hauswand, daraus«, antwortete Babajew ahnungslos.»Wann brauchen Sie die Bilder, Genosse?«
«Möglichst schnell.«
«Sagen wir übermorgen?«
«Gut.«
«Matt oder glänzend?«
«Hochglanz, bitte.«
Babajew notierte sich den Namen, steckte den Film in eine braune Tüte und vermerkte auf ihr den Kundenwunsch. Jankowski kaufte auch noch einen neuen Film, sechs Blitzwürfel und verließ dann den Laden, wobei die Glöckchen oben an der Tür fröhlich klingelten.
Victor Semjonowitsch Jankowski war vor neun Wochen in Nowo Korsaki aufgetaucht und hatte sofort Aufsehen erregt. Er war jung, hellblond, groß, sportlich muskulös, hatte blitzende blaue Augen, immer ein Lächeln auf den Lippen und kam aus Leningrad. Er war mit einem hochbeinigen, mit Geräten vollbepackten Geländewagen in das Städtchen gekommen, hatte sich bei Kasutin gemeldet und ein sehr interessantes Papier vorgelegt. Demnach hatte er den Auftrag, in der Umgebung von Nowo Korsaki geologische Untersuchungen vorzunehmen, Probebohrungen und Vermessungen, und das Ministerium bat darum, ihm alle Unterstützung zuteil werden zu lassen.
Kasutin sagte ihm alles zu, quartierte Jankowski in einem alten Haus ein, das dem schwerhörigen Dachdecker Fessenko gehörte, einem zweiundachtzigjährigen Greis, der meistens in einem Lehnstuhl saß und seit vierzehn Jahren in einem bebilderten Buch las, das die Eroberung von Odessa durch die Rote Armee schilderte. Jankowski war viel unterwegs, meistens bei den >Sechs Jungfrauen< und in den Wäldern, blieb auch manchmal ein paar Tage und Nächte draußen in der Wildnis, schlief in einem gefütterten Schlafsack und schoß sich seine Braten nach Wahl aus dem reichlichen Wildbestand heraus. Was er eigentlich tat, überblickte niemand, auch nicht Kasutin.
«Er ist Geologe«, sagte Kasutin zu den Neugierigen, die ihn bedrängten.»Er hat ein Schreiben vom Ministerium bei sich. Das genügt doch, Genossen? Sind wir berechtigt oder gar in der Lage, ein Schreiben des Ministeriums zu überprüfen? Ich bitte euch, meine Lieben! Das Dokument trägt drei Unterschriften und vier Stempel!«
So etwas imponiert jedem Russen. Ein Brief mit drei Unterschriften erzeugt Ehrfurcht. Dazu noch vier Stempel — Genossen, haltet den Mund! Victor Semjonowitsch ist in einer wichtigen Mission hier. Wenn er nicht von selbst darüber spricht — Ruhe bewahren, er wird seine Gründe haben. Man hört so wundersame Dinge, was alles unter dem Boden Sibiriens verborgen liegen soll. Wir dummen Alltagsmenschen sehen ja nur die Oberfläche.
Jankowski war in Nowo Korsaki bald ein beliebter Gast. Er konnte spannend erzählen, hatte gepflegte Manieren, starrte den Frauen der Gastgeber nicht sofort auf die Brüste, erzählte keine schweinischen Witze, spielte sehr gut Schach und war überhaupt ein betont höflicher, zurückhaltender Mensch. Seine männliche Attraktivität löste zuerst Alarm bei vielen Ehemännern und den Vätern erwachsener Töchter aus, aber als sich herausstelle, daß der verführerische Victor Semjonowitsch keinerlei Katermanieren an den Tag legte, betrachtete man ihn als einen Glücksfall von Gast. Auch der Pope lud ihn mehrmals zum Essen ein, das heißt vielmehr, Akif Victorowitsch Mamedow berichtete bei diesen Gelegenheiten jeweils so herzerweichend von der Lage der Priester im einsamen Sibirien, daß Jankowski gar nichts anderes übrigblieb, als nicht sich einladen zu lassen, sondern umgekehrt den Popen zu einem opulenten Essen zu bitten. Mamedow erschien mit der Bibel in der Hand, segnete Jankowski, las vor Tisch aus der Heiligen Schrift vor und fraß dann alle Schüsseln leer.
Am begeistertsten von Jankowski aber war der alte Fessenko, der Hausbesitzer, bei dem der junge Mann wohnte: Victor Semjono-witsch brachte ihm nämlich von einer Reise nach Swerdlowsk einen neuen Bildband mit: >Die Verteidigung von Leningrad gegen die Nazitruppen<. Damit war Fessenkos Lebensabend ausgefüllt. Der
Greis wurde in diesem Jahr ja zweiundachtzig.
Der Fotograf Babajew schloß also an diesem Tag seinen Laden pünktlich um 19.00 Uhr, holte aus dem Holzkasten die Amateurfilme und verschwand in seinem Labor. Obwohl das sein Beruf und damit seine Arbeit war, empfand Babajew immer Freude an den harmlosen Fotos, die seine Kunden knipsten und die er entwickelte und vergrößerte: Mamuschka beim Wäscheaufhängen; Großväterchen beim Holzspalten; eine Teerunde mit breit und dümmlich grinsenden Weibern; ein Hundebastard, der gerade auf Onkelchens Aktentasche schiß; ein junger Mann auf einem Fahrrad; ein halbwüchsiges Mädchen auf einer Schaukel zwischen zwei Birken; alles in allem die kleine, wichtige Welt seiner Mitmenschen, die in den Fotos konserviert wurde.
Gegen 22.00 Uhr hatte Babajew alle Filme entwickelt und gewässert. Sie hingen zum Trocknen an der Leine und sollten kurz danach durch die kleine Kopiermaschine laufen. Auch darin war Babajew fortschrittlich eingerichtet — die normalen Abzüge vertraute er einer Maschine an. Anders verhielt es sich mit den Bildern von Jankowski. Dieser war ein kritischer Kunde, da kam es auf Feinheiten an, da war gute Handarbeit vonnöten. Da mußte man Zwischentöne herausholen, grobe Schatten beim Vergrößern wegwedeln… es gibt da einige Tricks, die nur Profis, wie Babajew einer war, bekannt sind.
Kurz nach 22.00 Uhr hing Jankowskis Film allein an der Leine. Babajew starrte die Negative an, bereitete dann mit zitternden Händen die Vergrößerung vor, spannte das erste Negativ ein, projizierte es in der Größe 24x24 (statt wie gewünscht 18x18) auf den Tisch und legte dann das Papier unter. Mit dicken Schweißperlen auf der Stirn belichtete er, trug dann mit der Zange das Papier zum Entwicklungsbad und legte es hinein. Langsam erwachte unter seinen starren Augen das Foto auf dem Papier, nahm Formen an, wurde deutlich, erreichte den richtigen Punkt. Babajew holte das Blatt aus der Brühe, schwenkte es im Fixierbad und hängte es dann mit einer Klammer an die Schnur. Ganz kurz ließ er es abtropfen, nahm die Vergrößerung und rannte hinaus. Er legte es unter eine starke
Lampe, warf sich davor in einen alten Korbsessel und wischte sich zunächst den Schweiß aus dem Gesicht. Durch seinen Körper lief ein leichtes Zittern, so, als habe man ihn an einen schwachen elektrischen Strom angeschlossen, der nun mit seinem Blutkreislauf durch alle Adern floß.
«Das ist toll!«sagte Babajew mit trockener Kehle.»Du lieber Himmel, das ist mehr als toll! Ganz ruhig, Nikita Romanowitsch… laß dich nicht von einem Schlaganfall umwerfen. Behalte die Nerven. Atme tief durch, geh zurück in die Dunkelkammer und vergrößere auch die anderen Fotos. Ganz ruhig.«
Eine Stunde später hingen die zwölf Vergrößerungen hochglänzend und scharf vor Babajew. Er saß da mit gefalteten Händen, genoß den Anblick und war sich klar darüber, daß er diese Nacht nicht würde schlafen können. Auch ein Fotograf hat eine angreifbare Seele.
Erschüttert entledigte sich Nikita Romanowitsch seines Auftrags, vergrößerte die zwölf Fotos auf das gewünschte Maß von 18x18, steckte sie in ein großes Kuvert, schrieb darauf mit Rotstift >Für den Genossen Jankowski< und verschloß die Bilder in der Schublade.
Dann kehrte er zurück zu seinen privaten 24x24-Vergrößerungen, lehnte sich im Sessel weit zurück und ließ den Blick über die zwölf Fotos schweifen. Ab und zu trank er einen Schluck Wodka, holte sich eine große Zwiebel, schälte und aß sie und verzehrte dazu auch noch einen Kanten Brot.
«Ungeheuerlich«, sagte er ab und zu.»Eine grandiose, herrliche Schweinerei. Und das in Nowo Korsaki! Eine Gemeinheit ist die Anonymität. Aber ich bekomme es heraus. Ich bekomme es heraus! Victor Semjonowitsch Jankowski, Sie sind ein beneidenswertes Schweinchen. O Gott, haben Sie es faustdick hinter den Ohren! Ich wette, Sie werden nicht einmal verlegen oder rot, wenn Sie die Bilder von mir abholen. Ha, wie abgebrüht müssen Sie sein!«