Und nun war sie also weg, und mit einem Mal wurde es unmöglich, sich normal durch die Räume zu bewegen. Gehen wird unmöglich, als wäre zu wenig Luft da, oder zu viel. Türen dürfen nicht geschlossen sein in so einem Fall. Hinter jeder geschlossenen Tür ist etwas Namenloses, Unerträgliches. Ich habe das Gruseln gelernt, aber so richtig: vor dem Nichts. Dieses rasend machende. Auf, alles auf, alle Zimmer, alle Bäder, die Küche, sogar den Waschmaschinenraum, damit ich deutlich sehen kann: da ist nichts. In ihrer Badewanne lagen Überbleibsel eines letzten Bades: Blüten und Sand. Von da an mied er ihr Bad, obwohl er dadurch für Toilettengänge ständig hinuntergehen musste, in die untere Etage, was er sonst nur tat, um die Pizza in Empfang zu nehmen.
Sie war die wartende Frau gewesen, nun war er der wartende Mann. Er wartete, dass es vorbeiging, dass sich die Situation von alleine aufbrauchte, dass es von alleine anders wurde. Guter, naiver Kopp. Als ob es keine Menschen gäbe, die 40 Jahre lang quasi in ihre Wohnung hineinrotten. Nicht einmal mehr auf dem Sofa, auf dem sich schon zuviel angesammelt hat. Nichts, was man nicht entfernen könnte, wenn man denn könnte, aber nein, lieber gleich auf seinen Platz verzichten, tiefer als
Hat dich deine Mutter etwa dafür geboren? fragte Juri.
Keine Ahnung, wofür sie mich geboren hat, sagte Darius Kopp. Wofür hat dich denn deine geboren?
Herr der Welt zu sein, selbstverständlich.
Die Welt bedankt sich ganz herzlich.
Ich muss die Asche wegbringen. Die Asche muss weg. Eigentlich ist meine Frau schon bestattet. Man nennt es Feuerbestattung. Machen wir uns nichts vor. Effektiv ist das, was wir ihre sterblichen Überreste nennen, beseitigt. Der Atmosphäre übergeben. Was» ein Grab in den Lüften «ist, habe ich von meiner Frau gelernt, deswegen verwende ich das hier nicht. Auch» durch den Schornstein gegangen «ist unangemessen.»Das steht im Rauchfang geschrieben mit schwarzer Kreide «kennen hingegen außer ihr und mir kaum einpaar Millionen. Wenn ich gewusst hätte, dass es keine Urne gibt, die nicht wie eine Vase aussieht… Zur Zeremonie wird oben noch ein Blumengebinde angebracht, was sie noch mehr zu Vasen macht. Rosen oder Lilien, egal. Die Mitglieder der Trauergemeinde verneigen sich vor einer Blumenvase. Na, das wenigstens hab ich verhindern können. Aber es wäre besser gewesen, den Körper zu bestatten. Schwarze Erde, braune Erde, rote Erde, weiße Erde. Sand, Schluff, Ton, Lehm. Flora und Fauna. Das hätte ich tun sollen. Aber ich war zu unaufmerksam. Jetzt hab ich die Asche. Lassen Sie sich ein Juwel daraus machen! Setzen sie ihn in Ihren Schneidezahn ein. In Ihr Zungenpiercing. Als würden nicht alle ein Leben lang am fetten Wahnsinn kauen. Entschuldige.
Er sah zum Beifahrersitz. Sie sah beim Fenster hinaus, in der Abenddämmerung sah er nicht mehr von ihr als ihr dunkles Haar.
Entschuldige, aber das ist ein wenig gruselig. Ein Licht anmachen, die Schatten anders verteilen. Aber bevor er mit zittrigen Fingern irgendeinen Schalter gefunden hätte, stellte ein Sensor fest, dass die Dämmerung nun ausreichend fortgeschritten war, und schaltete automatisch die Außen- und die Armaturenbrettbeleuchtung an, und sie verschwand.
Wenigstens bin ich jetzt endlich ruhig, und das nicht wegen des Mittelchens, das sie mir gegeben haben. Wie fair von ihnen, nicht soviel gegeben zu haben, dass ich gar keine andere Wahl mehr gehabt hätte, als jetzt in irgendeinem Krankenhausbett zu schnarchen. Auf Einschränkungen in der Fahrtüchtigkeit hat man mich nicht hingewiesen. Vergessen oder es gibt keine. Darius Kopp in Ruhe und Frieden auf der böhmischen Autobahn.
Später am Abend sollte sich das noch ändern.
An der deutsch-tschechischen Grenze hatte es keine Vignette für die slowakische Autobahn gegeben, ebenso wenig an der tschechischslowakischen, er war gezwungen, noch einmal an einer Tankstelle zu halten. Der Parkplatz befand sich hinter dem Gebäude, und als er die Autotür öffnete, wusste er schon, hier wird gerade ein mächtiger Fehler begangen, etwas an diesem Ort stimmt nicht. Am Rande des Gestrüpps hinter den Parkbuchten lungerte ein Mann im Blouson, den Kopf eingezogen, eine Hand in der Tasche, in der anderen der Tschick, führte einen kleinen Tanz auf, von einem Bein auf das andere, als wäre ihm sehr kalt, in seiner Nähe war ein Fahrzeug abgestellt, trotzdem hast du das deutliche Gefühl, was du da siehst, ist keine einfache Raucherpause. Du rufst dich zur Ordnung. Wirklich, lächerlich, kaum einpaar Stunden unterwegs, und schon denkst du dich wer weiß wohin, in was für einen wilden Osten. Aber die Unruhe in manchen Menschen, dieses ewige Hinundher, nie stillstehende Glieder, so etwas irritiert einen zu Recht, es ist nahezu Infektiös, Beispiel Darius Kopp, der selbst ganz hibbelig wurde, mit fahriger Hand seine Vignette bezahlte, beim Hinausgehen an der Schwelle stolperte, fluchte, fluchend auf sein Auto zustolperte. Der Raucher war nicht mehr da. Das geparkte Auto schon. Vielleicht sitzt er drin. Im Dunkeln. Oder es war nicht seins. Der Tankstellenbetreiber muss ja auch irgendwie herkommen.
Kopp stieg ein, fuhr auf die Autobahn, fuhr wenige Meter und merkte: er hatte einen Platten. Die Drecksau hat mir den Reifen zerstochen! Darius Kopp jaulte auf vor Wut.
Nichts als Neid und Aggression, wohin du dich auch wendest. Das miese Stück Scheiße. Nur Neid, nichts als aggressiver Neid. Hätte er mir wirklich schaden wollen, hätte er alle 4 zerstochen. Aber nein, er wollte mir nur einen mitgeben. Ja, wisst ihr denn nicht, dass ich mich zu euch gehörig fühle?!
Nein, woher sollten sie das wissen. Und vor allem: zu wem?
Die Osteuropäer. Ich meine: die Osteuropäer.
Aber das sind keine Osteuropäer, sondern Wegelagerer. Wegelagerer haben kein Heimatland! Auch das habe ich, in einer Variation, von meiner Frau! Ihr verdammten scheiß Arschlöcher! Can you hear me?! Assholes!
Darius Kopp, auf einem kaum beleuchteten Ausweichparkplatz am Rande der slowakischen Autobahn, aus voller Kehle brüllend. Ist mir egal, ob das sinnlos oder lächerlich ist. Fetter Deutscher krakeelt in der Nacht, weil ihm sein Auto verletzt wurde. Ist mir egal.
Er brüllt, bis ihm die Kehle wund wird. Selbstverständlich tritt er auch gegen das Rad. Er ist schon ganz verschwitzt. Später muss er deswegen frierend das Rad wechseln. Das Schlimmste ist, dass ich Angst habe. Angst, dass das alles Teil eines größeren Plans ist: Reifen zerstechen, dann auf dem nächsten Ausweichparkplatz stehen usw. Und das eigene Schnaufen ist so laut, dass man gar nicht hören kann, ob einer kommt. Solche Angst hatte ich seit Ewigkeiten nicht mehr. Noch nie. Ich hatte im letzten Jahr durchaus Gefühle, wenn auch nicht viele, die Wut weiß ich noch, die Verzweiflung, Trotz und Traurigkeit, aber Angst hatte ich zu keiner Sekunde. Das also ist die Realität, was?! Das ist die Realität, dachte Darius Kopp. Wer aus seiner Höhle kommt, hat, zack, ein Messer im Rücken. Anfangs kannst du noch mit deinem Autochen herumfahren wie in einem Computerspiel, aber langsam, nein, mit einem Knall, wirst du wieder daran erinnert: die Körper sind durchdringbar. Schnaufend, mit säurescharfem Adrenalin in jeder Zelle seines Körpers wechselte Darius Kopp das Rad. Er fing sogar an, Knurrgeräusche von sich zu geben. Als er es merkte, knurrte er noch lauter, sollen sie doch hören, dass ich gefährlich bin. Die Verletzungen des letzten Kampfes sind noch nicht verheilt. Die Rippen, das Jochbein, die Arme fingen wieder zu schmerzen an. Soll es also so sein? Sich durchschlagen im Wortsinne. Fein. Kommt ruhig, ich habe einen Schraubenschlüssel in der Hand. Ein Fall für den Boulevard des Tages. Trauernder Witwer, unterwegs, seine Frau zu beerdigen, von Wegelagerern getötet. Nicht die schlechteste Story. Mir jedenfalls gefällt sie. Kurze, markige Geschichten, wie sie das Leben schreibt. Und während er darüber nachdachte, hörte Darius Kopp auf, Angst zu haben.