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Oh, sagte sie. Entschuldige, dass ich störe.

Sie zögerte, kehrte fast um, sprach es dann doch aus: Ich hätte… Wenn es möglich wäre…

Ob sie und die Kinder auf der Terrasse ein Weihnachtsfeuer machen dürften. Ein was?

Das ist eine Tradition. Man zündet über Weihnachten Feuer an, um die bösen Geister abzulenken, damit sie nicht am Baum nagen, der die Welt trägt. Wir haben das immer. Hier auf der Terrasse. Vielleicht wäre es auch für dich interessant.

(Nein, dachte Darius Kopp. Ich will weiter Pizza essen, Rotwein trinken und Kriegsfilme schauen. Aber laut sagte er, wohlerzogen bis ins Grab:) Verstehe. Klar. Natürlich.

Er half, die Utensilien aus der Rumpelkammer neben der Mansarde zu holen. Wenn du deine eigenen Pläne nicht verwirklichen kannst, kannst du dich ebenso gut wie ein Gentleman verhalten. Schleppe, was zu schleppen ist, die (schwere) Feuerschale, zwei Plastikbänke, das Holz, fege den Schnee beiseite und hilf dem kleinen Jungen, das Feuer anzuzünden. Die Tochter kommt, als alles fertig ist. Sie heißt Irini, das bedeutet Frieden. 13 Jahre alt und dünn wie ein Zweiglein, überschminkte Aknemale im Gesicht. Sie ist von oben bis unten in Hellblau gekleidet, die beiden Decken, in die sie sich hüllt, sind ebenfalls hellblau. Die Augen sind nicht grün, sondern schwarz, die des kleinen Jungen auch.

Der Große wollte nicht mit hochkommen. Er ist fünfzehn.

Das Feuer brennt, schau, auch auf anderen Dächern, aus der Musikanlage in Kopps Zimmer tönen Weihnachtslieder: deutsche und amerikanische. Gesungen von einem Kinderchor auf Griechisch. Irini, Jorgo und Christina singen mit, Darius Kopp nicht. Erstens kann ich nicht griechisch und zweitens kann ich mich gerade so weit zusammenreißen, nicht hineinzugehen und den Fernseher einzuschalten. Er trinkt die ganze Thermosflasche mit dem Glühwein für die Erwachsenen aus und geht alle 5 Minuten auf die Toilette. Schrubbt sich lange den Mund am Spülbecken, das letzte warme Wasser des Tages verrinnt. Als er sich wieder einmal aus der wackeligen Plastikfalttür geschält hat, singen die griechischen Kinder vom Band gerade Stille Nacht.

Es kommt, wie es kommen muss. Das kennst du doch bestimmt etc.

Ja und nein. Ich kenne den Text nicht. Ich kann nur: stille Nacht, heilige Nacht, stille Nacht, heilige Nacht, sagt Darius Kopp, damit alle lachen können.

Irini singt: stille Nacht, heilige Nacht, stille Nacht, heilige Nacht und Jorgo sekundiert natürlich, stiele naa, hajuga naa. Das Mädchen hat eine Stimme wie ein Glöckchen.

Eine Weile hält das die Stimmung über dem Rand, aber irgendwann wird doch peinlich geschwiegen, weil die Kinder auf der CD ja unbedingt alle 5 Strophen singen müssen, stille Nacht, heilige Nacht, stille Nacht, heilige Nacht, sie hören gar nicht mehr auf, und dann doch, und etwas anderes kommt, aber da singt keiner mehr mit. Ihre Laune geht allmählich den Bach hinunter, ist es meinetwegen, oder nicht, vielleicht denken sie auch grad an ihn. Den Unbekannten mit den schwarzen Augen und dem guten Weingeschmack. Vor 3 Jahren war der Kleine erst 2, das Mädchen war schon 10. Darius Kopp zieht sich eine Decke vor den Mund, um weniger da zu sein. Gottseidank kommt Jingle Bells, und Jorgo mag das so sehr, dass er nicht nicht singen und tanzen kann, und, um gutzumachen, was man gutmachen kann, singt nun auch Darius Kopp mit.

Er bemühte sich, es nicht zu gut zu machen, aber es gelang immer noch so, dass die Frauen große Augen bekamen und der kleine Jorgo aufhörte zu tanzen und zu lallen und sich direkt vor Darius Kopp stellte, um ihn anzustarren. Von da an wichen sie ihm nicht von der Seite. Sie schleiften ihn hinunter in ihre Wohnung, zeigten ihm seinen Platz am Tisch — zum Essen kam auch Aristidis, auch er mit Aknemalen im Gesicht und ganz in Schwarz gehüllt, anwesend und auch wieder nicht — gossen ihm Wein und Wasser in die Gläser und schoben alle Schüsseln mit dem Essen dicht an seinen Teller heran.

Nach dem Essen gingen die Jungen wieder zum Fernsehen über, aber Irini zeigte mit ihrem dünnen Zeigefinger auf Kopp und sagte: You wait please! Sie holte eine Ukulele und ein Liederbuch mit allem möglichen Zeug, Beatles und Ähnliches. You know that? And this? Sie kann nicht mehr als drei Akkorde greifen, aber ihre Glöckchenstimme passt perfekt zu Darius Kopps lyrischem Tenor, und so sangen sie den Rest des Abends Yellow Submarine, Yesterday und all die Dinge, die 13jährige Mädchen mögen. A bridge over troubled water. Und wenn Darius Kopp Anstalten machte, eine Zeile oder auch nur ein Wort nicht mitzusingen, gab sie ihm mit ihrem knochigen Knie einen Stups: weiter! Darius Kopp verbringt den zweiten Weihnachtsfeiertag Knie an Knie mit jemand anderes i3jähriger Tochter, singend, so etwas habe ich auch noch nie erlebt, aber ich kann mein Herz nicht öffnen, nein, ich kann es nicht, ich bin höflich, keiner kann was sagen, ich kann mich benehmen, du wärst stolz auf mich, aber mein Herz, mein Herz, wenn es spät genug geworden ist, gehe ich wieder hoch in mein Asyl. Irini brachte ihn zur Tür und sagte: Have a nice sleep.

Zwischen Feiertagen ist die beste Zeit, heimlich wieder einzuziehen. Wo steht denn geschrieben, dass ich auf dich warten muss? Ständig auf dich warten? Eine Matratze aus dem Storage holen, alles andere ist nicht wichtig. Ich habe gelernt, mit wenig zurechtzukommen. Kann mich an die meisten Gegenstände gar nicht mehr erinnern.

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[Dateiname: G]

G. sagt:

Was du immer tun kannst: Samen verstreuen. Symbolisch und konkret. Blumen pflanzen: überallhin. Unter Bäume am Straßenrand. Unter die Nasen der betrunkenen Stammkundschaft der Stampen. Auf Stadtbrachen. All das ist verboten. Natürlich ist so etwas verboten. Drauf gepfiffen. Außerdem, wofür zum Teufel hast du deinen Führerschein, du kannst Lebensmittelspenden zur Tafel fahren, und du kannst sie dort ausgeben. Ich bin fremd wie überall, und ohne G. würde ich mich niemals dahin trauen, und aus unbekannten Gründen schäme ich mich auch etwas, aber darüber musst du dich hinwegsetzen. Ich werde mich nicht verachten für die» Gutheit «dieser Dinge. Ich werde auch nicht stolz sein. Wozu Stolz. Am wichtigsten ist, in Bewegung zu bleiben. Das Gegenteil hast du schon ausprobiert. Hat nicht geholfen.

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[Datei: Ilonka]

Natürlich arbeiten in der Armenspeisung auch nur Menschen. Frau Ilonka (erfundener Name) ist so eine strenge Gutmütige. Ein Euphemismus. In Wahrheit ist sie eine Beleidigung. Grobheit, die als Husch-husch-Art getarnt ist. Ja, sie schubst sogar. Geh da weg! Duzt natürlich jeden. Ich sieze sie höflich und mit leiser Stimme, spreche sie mit Frau Ilonka an. Kein Effekt. Spricht keinen je mit Namen an. Du da! Du machst das, du machst das, aber dalli, dalli, und mein lieber Scholli, wie oft soll ich's dir noch sagen, ich will nicht noch mal darauf aufmerksam machen müssen, jetzt reicht's mir aber, hast du's jetzt endlich, das ist doch wohl nicht so schwer, zicke-zacke usw. Niemand hat sie zur Chefin ernannt, sie hat sich selbst ernannt. Drill-Sergeant Frau Ilonka. Horterzieherin, Gardobiere, Gefängniswärterin meiner Kindheit. Assoziationen. (In Wahrheit habe ich KZ-Wärterin assoziiert. Ich verschweige das sogar vor mir selbst. Was weißt du schon vom KZ? Nichts.) Sie ist nicht allein schuld daran. Der Boden, aus dem sie gewachsen ist: Preußen, der Faschismus, der real existierende Sozialismus. Das sind die anzunehmenden Alternativen in dieser Region. (Und was ist mit dem Pietismus? Dem Humanismus? Dem Liberalismus? Waren das KEINE Alternativen? Wie auch immer:) Es gibt anzunehmende Gründe genug, gnädig zu ihr zu sein. Aber wann bin ich gnädig: wenn ich sie hinnehme (Sie gewähren lasse) oder wenn ich ihr in aller Liebe die Chance eröffne, trotz aller Voraussetzungen eine freundliche Umgangsweise zu versuchen? Aber ich habe keine Liebe zu ihr in mir. Deswegen geht es nicht. Ich kann sie nicht auf ihre Grobheit ansprechen, weil ich sie nicht mag. Und warum können es die anderen nicht?) Der Einzige, mit dem sie einigermaßen gnädig umgeht, ist der Mönch mit dem zerschnittenen Gesicht. Er trägt einen weißen Bart, obwohl er noch jung ist. Sein Haar ist braun, sein Bart ist weiß, zwischen weißen Barthaaren rote Schluchten: die Narben. Er war mal in der Hand von Terroristen, sagt Ilonka. Ich denke erst, sie lügt, was, neben ihrer Grobheit, ein Beweis dafür wäre, dass ihre Persönlichkeit unhaltbar deformiert ist, und ich wäre in diesem Fall bereit, endlich den Mund aufzumachen und zu sagen: diese Frau ist psychiatrisch auffällig, halten Sie es wirklich für eine gute Idee, sie hier mitarbeiten zu lassen, aber dann schau ich sie an und weiß: sie lügt nicht. Nur, weil so etwas sonst nur in den Nachrichten vorkommt, heißt es noch nicht, dass die ruppige Suppenfrau, die ohne Zärtlichkeit Gutes tuende Ilonka lügt. Was für Terroristen?