Später sagt er seiner Schwester, von der zu wissen ist, dass sie nicht lockerlassen wird, bis sie nicht eine Antwort erhält:
Stell dir vor, dass, egal, wie dein Tag war, ob er gut war oder schlecht, öde oder von guter Aktivität erfüllt oder vielleicht hektisch, vollkommen egal, egal, ob und was du gegessen hast, ob du an der frischen Luft warst oder nicht, ob du geredet hast oder geschwiegen, ferngesehen oder gelesen oder gar nichts, vollkommen, absolut, uneingeschränkt gleichgültig, was du getan und was du gelassen hast, nur eines ist sicher, dass dich jeden einzelnen gottverdammten Tag deines Lebens schreckliche Hoffnungslosigkeit heimsuchen wird, jeden Tag, unendliche Hoffnungslosigkeit. Mal dauert es nur 2 Stunden, mal jede Minute, die du wach bist, und jede, die du schläft. Du liest alles Mögliche darüber zusammen, Mittagsdämon und so weiter, du weißt ohnehin eine Menge über den Körper und seine Prozesse, du könntest tausendundeine Erklärung bringen und fast genauso viel Medikamente dagegen nehmen, es würde nur absolut nichts nützen. Jeden Tag deines Lebens musst du mindestens 2 Stunden gegen den Tod kämpfen. Ich bin einfach müde geworden. Mit den Jahren ist es immer schwieriger geworden, danach wieder aufzustehen. Demütigend schwer. Ich weiß, du liebst mich und du hast dir vorgenommen, alles zu tun, um zu verhindern, dass ich es wieder tue. Aber du bist nicht allmächtig. Es wird, irgendwann, eine halbe Stunde geben, in der du mich aus den Augen lassen musst.
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[Datei: Barth_Win]
Barthes zitiert Winnicot (41f)
«Der Psychotiker lebt in der Angst vor dem Zusammenbruch (deren Abwehr die verschiedenen Psychosen bilden). Aber» die klinische Angst vor dem Zusammenbruch ist die Angst vor einem Zusammenbruch, der bereits erlebt worden ist (primitive agony)…«
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Nicht zu vergessen, besitzen wir auch noch den Zugang zu einem Bankschließfach. Da lache ich doch laut heraus!
Und er lachte, aber das war nicht lauter als das Zwitschern des Wassers zwischen den Kieseln. Ganz zu schweigen vom Verkehr, der auf der Küstenstraße hinter ihm rollte. Er schloss den Mund vor der kalten Luft, und sein Magen fing zu knurren an. Die neue mittägliche Routine, die er sich zugelegt hatte — Müll zum Container, anschließend eine Suppe in der Markthalle — durch Stavridis' Rückkehr zerstört. Keine Herz-Lungen-Suppe heute für dich. In Gesellschaft alter und anders einsamer Männer. Trotz der welken Schichten alter Hemden sieht man, dass ich anders bin, aber das Verspeisen von Innereien ist überall auf der Welt ein starkes Band. Man nickt mir zu und fragt: Jermanikós?
Heute: nichts davon. Und keine Bahn in Sicht. Er ging aufs Geratewohl los. Das Spiel heißt: die erste Lebensmittelquelle, die des Weges kommt, wird genommen. Sei es ein Kiosk oder ein Sternerestaurant. (Preisfrage: Würde man dich —»in dieser Aufmachung«— in ein Sternerestaurant überhaupt einlassen? Immerhin habe ich mir für Stavridis' Mutter, tot oder lebendig, ein sogenanntes gutes Hemd angezogen. Nur eines. Deswegen friere ich jetzt auch wie ein Schneider.) Geh schneller, damit's dir wärmer wird.
Das Problem ist nicht, ob ich nun schon ganz und gar pleite bin oder noch nicht so ganz. Mittlerweile habe auch ich gelernt, von weniger als einem Zehner am Tag zu leben. Abgesehen davon, dass das immer noch zuviel ist für einen, der kein Einkommen hat, ist das eigentliche Problem, dass ich dachte, ich müsste nur etwas warten und die Arbeitslust würde wiederkehren. Aber sie ist nicht wiedergekehrt. Im Gegenteil. Wenn unterwegs irgendwo die Logos großer Unternehmen in der Landschaft aufschienen, Unternehmen, in denen Menschen arbeiten, deren Qualifikation etwa der seinen entsprach, überfiel Darius Kopp jedes Mal ein derartiger Widerwille, dass sich zäher Speichel in seinem Mund sammelte. (Schluck's runter, du Loser! — Manchmal gelang es, manchmal nicht. Diskret unter Büsche spucken.) Schlimmer reagierte er nur noch beim Anblick sogenannter mittelgroßer Unternehmen. Mit ihren Blitzen und Schallwellen und dem Namen des Besitzers im Firmennamen auf alle verfügbaren Flächen des Kastenwagens gedruckt. Beim Chefkombi nur auf die vordere Tür. Blau ist eine Farbe, die Vertrauen erweckt, Rot hingegen sorgt für Aufmerksamkeit. Du hast nicht einmal Dankschönundaufwiederschauen gesagt. Und das bei den Hoffnungen, die der gute Herr Tragheimer in dich gesetzt hat. Ich setze große Hoffnungen in Sie. Später: Dich. Leider war es mir nicht möglich, ihn nicht zu enttäuschen. Es war mir nicht möglich, alle nicht zu enttäuschen. Wenn du keinen Spaß an der Arbeit hast, habe ich meinen Kindern immer gesagt, sagte der gute Herr Tragheimer, dann mach sie halt ohne Spaß, aber gemacht werden muss sie. (Und wo waren die Kinder heute? Wieso setzt du deine Hoffnungen nicht in sie? Aber er fragte nicht nach.) Holte nicht einmal die Klamotten aus der Unterkunft ab. Man sagt, wer ausgebrannt ist, soll den Beruf wechseln. Aber wie viele können das wirklich?
Der Österreicher muss einem da ausgerechnet einfallen. Wie er davon faselt, Foodscout sein zu wollen. Bildender Künstler und Foodscout. Mit einer Leidenschaft für Hammelfleisch und Oliven. Möge ihm sein Olivenhain abbrennen. Warum denkst du so etwas? Aus purem Neid. Weil ich nicht einmal mehr Illusionen habe. Deswegen findest du nicht heim. Ja, deswegen. I find nimmer ham. Das haben wir gemeinsam gesehen. Karl Valentin im Fernsehen als Zitherspieler, dem die Noten durcheinandergeraten, und dann kommt er aus dem Stück nicht mehr heraus. Du saßt neben mir und drücktest meine Hand, um den Moment abzuspeichern. Ich werde ihn auch nicht mehr vergessen, solange ich lebe. Aber was nützt mir das. I find nimmer ham. Der längst tote Karl Valentin spielt auf ewig die Zither, und ich finde meinen Platz nicht, seitdem du nicht mehr bist. Kein Hain, keine Nymphen. Das Ausmaß meiner Trauer, die sich vor allem als Ratlosigkeit zeigt, überrascht mich selbst. Dieses neue Erlebnis von Tiefe ist schwindelerregend, es ist, in der Tat, ein Abenteuer, aber wenn es stimmt, dass ein Lebendiger nicht mit den Toten leben kann — Elende Strandpromenade, an der im Winter alles geschlossen ist. Nur die schwarzen Jungs sitzen da mit ihren auf schnell zusammenraffbare Lappen gebreiteten gefälschten Handtaschen und frieren sich zu Tode. (Wohin kommen Illegale, wenn sie sterben? Wenn es gut läuft, in anonyme Gräber. Wie oft läuft es gut, wie oft nicht.) Was ihr hier macht, ist noch viel sinnloser als — Außer mir kommen doch nur noch die verrückten Rentner, die, geschehe, was wolle, jeden Tag des Jahres im Meer schwimmen. Sie haben sich aus Schwemmholz ein kleines Feuer gemacht. Man hört ihr Lachen bis hierher. Mir ist kalt.
Weißt du, sagt Flora, ich habe es eigentlich immer schaffen wollen.
Kopp versagen beinahe die Knie. Weil sie wieder da ist.
Und dann ist sie wieder weg. Stattdessen wankt eine kleine alte Frau mit den schwersten O-Beinen, die Darius Kopp je gesehen hat, über die Strandpromenade. Ihr graues Haar weht, ihre Nase sieht wie zertrümmert aus. Mehrere Plastiktüten in jeder Hand, darin schleppt sie Flaschen. Krakeelt irgendetwas. Als ob sie mich meinte. Sie meint auch dich. Krakeelt Kopp etwas ins Gesicht, das er nicht versteht, aber dass es kein Lob ist, soviel ist sicher. Es ist auch keine Klage, es ist eindeutig: sie beschimpft ihn. Warum beschimpfen Sie mich, wer sind Sie, was wissen Sie über mich, für Ihre Syphilisnase kann ich nichts, für Ihre Krummbeine kann ich nichts, für Ihre Flaschen, für Ihre Stimme, für den Mantel ohne Ärmel, warum, um Gottes Willen, haben Sie die Ärmel des Mantels abgeschnitten… Die Straßenbahn fuhr bremsend an ihnen vorbei, die nächste Haltestelle war nicht mehr weit, aber doch weiter, als es ein Darius Kopp wahrscheinlich schaffen konnte. Er rannte dennoch los. Die Alte lachte wie eine Krähe.