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Jetzt rede ich auch schon so. Schnallst du dich an, damit ich losfahren kann?

Seit mittlerweile 8 Wochen ertrage ich dich. 8 Wochen, die Darius Kopp wesentlich länger vorkamen als das gesamte Jahr davor. Nein, nur 10 Monate, von August bis Juni. Ein gefühlter langer Winter. In den letzten Jahren sind die Winter unglaublich hart geworden. Die Heizung startet jedes Jahr mit einem Ausfall, aber wer, wie Darius Kopp, reich an Erfahrungen ist, gerät darüber nicht in Zustände, er legt sich einfach neben den Heizkörper und lässt kontrolliert die Luft ab und legt einen Lappen unter, damit das überflüssige Wasser dorthin tropfen kann. Lag da, hörte sich das Zischen an, sah zu, wie es tropfte. Der Lappen war ein orangefarbenes Poloshirt.

Von August des vergangenen bis Juni dieses Jahres hatte Darius Kopp seine Wohnung nicht mehr verlassen. Anfangs waren noch Leute da, Menschen, denen ich nicht vollkommen egal bin, die mich bedauerten oder mit mir fühlten wegen der harten Zeiten, die ich zuletzt durchmachen musste, aber nachdem sich die Kälte festgesetzt hatte und die hier so sonst fast nie gesehenen hohen Schneeberge die ganze Stadt bis auf ein Minimum an Durchlässigkeit eingeengt hatten, blieben sie dann doch weg. Es fror und ließ etwas nach und fror wieder, alles knackte, in den Wänden entstanden Risse. Kopp sah und ignorierte sie. Das waren doch nur haardünne Fädchen, bis das Außen zum Innen und das Innen zum Außen wird, braucht es wesentlich mehr, und bevor das passiert ist, gibt es keinen Grund, hektisch zu werden. Er hatte ein System entwickelt, das es ihm erlaubte, niemals hinausgehen zu müssen. Das System war von genialer Einfachheit, es umfasste nur einen einzigen Punkt, nämlich: etwas zu essen und zu trinken zu besorgen. Was das anbelangt, bin ich ein mehr als einfacher Fall. Er bestellte immer nur Pizza, immer von demselben Lieferanten und immer stur die Speisekarte herunter. Von Margherita bis Speciale, 24 Sorten, immer von vorne nach hinten. Pizzaboten, die durch alaskawürdige Schneelandschaften holpern.

24 Pizzasorten, 4 Pizzaboten für diesen Lieferbereich. Wenn die Gefahr, einer könnte ihm zu vertraut werden, zu groß wurde, legte Darius Kopp das Geld mitunter auch einfach auf den Fußabtreter und fand, nachdem das Nesteln im Treppenhaus verklungen war, an derselben Stelle seine Pizza vor. Einmal am Tag öffnete er ein Fenster, wie es sich gehört, damit abgestandene warme Luft sich gegen schmerzlich kalte tauschen konnte sowie relative Stille gegen das übliche Getöse einer vierspurigen Straße mit Straßenbahn und Einflugschneise. Wenn er Lust dazu hatte, ging Kopp solange ins Bad. Wenn er dann herauskam, fiel diese schier unvorstellbare, laute Kälte auf seinen weichen, warmen, noch etwas feuchten Körper, Herzschlag, Atmung, Schleimhäute, Poren reagierten, wie es sich gehört, mit Alarm, aber Kopp schritt gemessen weiter, schloss das Fenster und zog sich die vollkommen ausgekühlten Klamotten vom Vortrag wieder an.

Leider wurde es, wenn auch mit großer Verspätung, doch noch einmal Frühling. Eines Morgens öffnete Darius Kopp die Kaffeedose, sah, dass sie leer war, er hob eine neue Packung vom Schrank und sah, dass es die letzte war. Als endgültig klar war, dass Darius Kopps Frau hier nicht mehr mit ihm zusammenleben würde, unternahm er einen einzigen Versuch, den alten Standard alleine aufrechtzuerhalten, indem er bei einem Getränkelieferanten große Mengen Mineralwasser, Alkohol und Kaffeepulver bestellte. Die flüssigen Sachen waren seit Ewigkeiten ausgetrunken, und jetzt war also auch die letzte Packung Kaffee angebrochen, und gleichzeitig fing es plötzlich an heftig zu tauen. Die folgenden 5 Tage reduzierte Kopp seinen üblicherweise üppigen Fernsehkonsum und sah dem faszinierenden Schauspiel des Tauens zu. Heftigstes Tauen! Plätschernde Gebirgsbäche mitten auf einer vierspurigen Straße, über den Gehsteigen abstürzende Eiszapfen und Dachlawinen. 5 Tage dauerte es, bis auch die letzten Krusten aufgebrochen waren und die Straße in ein Feld nach der Schlacht verwandelt: Endmoränen aus Streusplitt, Asche, Müll, Hundekot, Feuerwerkskörpern und Kadavern kleiner Tiere: Meisen, Tauben, Krähen, Mäusen und Ratten. Im nahe gelegenen Friedhof ein Fuchs und einige Eichhörnchen. Im Teich in einem Park sämtliche Fische. Die Menschen sahen auch nicht gut aus. Sie selbst und ihre Kleidung waren grau geworden, sie sammelten sich vor einer Suppenküche. Es war ein normaler Imbiss, der Gesamteindruck war dennoch so, als hätte man gerade erst einen Krieg überstanden.

Er dachte es, Juri sprach es aus. Das Tauwetter spülte auch ihn wieder an die Oberfläche. Er polterte durch Kopps private Räume und schimpfte aus allen Rohren. Was für eine Scheißgegend, besonders jetzt mit dem ganzen Abfall auf der Straße! Alter, ich habe eine tote Ratte in einem Müllhaufen gesehen! Und das? Was ist das hier? Das passt ja dazu wie die Faust aufs Auge!

Dabei war es nur eine Kommode im Schlafzimmer, auf deren Ablagefläche sich immer alles ansammelt: Kleingeld, Klammern, Pillen, Pflaster, Zettel. Zwischen der ursprünglichen Dekoration, bestehend aus drei Kerzenleuchtern und zwei mexikanischen Tonfiguren. Das war vorher schon so. In den letzten 10 Monaten hat sich an der Wohnung eigentlich nichts geändert. Die Terrasse ist fast zur Gänze von leeren Pizzakartons eingenommen, das ist das Einzige.

Aber Juri schrie wie ein Berserker.

Komm mal her! Komm sofort her!

Ausgerechnet jetzt musste das Tauwasser anfangen, durch das Dach zu treten. An der Gummiabdichtung des Dachfensters vorbei, an der Stromleitung des Hebemotors entlang, erst nur in Tropfen, dann, als Juri einen Finger in die Gummidichtung bohrte, wie ein Wasserfall. Meine Hütten und mein Gezelt zerstört. Juris Kopf und Anzug von Tauwasser besudelt. Davon bekommt der nahezu gute Laune. Nimmt die Sache sofort in die Hand, ruft gleich dort, in der Pfütze stehend, zwei Freunde an, Potthoff und Muck mit Namen, die sich mit Renovierungen auskennen. Alte Theaterregeclass="underline" Wenn es nicht mehr weitergeht, stell die Bühne um. Bei manchen reicht es, die Möbel woanders hinzuschieben, bei dir ist es notwendig, die Wohnung zu wechseln. Du wirst aus dieser Wohnung ausziehen. Kannst du sie dir überhaupt noch leisten? Sei nicht dumm. Ruiniere dich nicht. Es ist nur eine Wohnung. Zum Glück in einer angesagten, das heißt, überschätzten Gegend. Das solltest du nutzen.

Kopp sagte, der Wahrheit entsprechend, mit aller gegebenen Ruhe, dass er das nicht möchte. Er möchte nichts dergleichen nutzen, es ginge ihm perfekt gut, ich lass mir doch wegen einem Loch in einem Zahn nicht das gesamte Gebiss herausreißen.

OK, sagte Juri und starrte ihn an, wie er es sonst kaum tut. Ein Mensch, der anderen nicht in die Augen sieht. Lieber tut er so, als wäre er dafür zu schnell. OK, sagte Juri und behielt Kopp fest im Auge, ich sehe, du hast die Strategie geändert. Obwohl mir die alte — fressen, saufen, kaufen, grinsen — immer das bei weitem Sympathischste an dir war, aber Schwamm drüber. Du hast also beschlossen, ein Penner zu werden. Nur nach einem Anlass gesucht, um alles fallen lassen zu können. Solche Geschichten gibt's, zuhauf. Ingenieur gewesen, Job verloren, Frau verloren, auf der Straße gelandet, und das nur wegen der Schwäche der Seele. Die Schwäche der Seele über dein Leben triumphieren zu lassen ist fatal, viel gefährlicher, als die meisten denken, und es geht viel schneller. Das alltägliche Gejammere fällt nicht unter Schwäche der Seele, im Gegenteil, das ist ein Reparaturmechanismus, das hat Juri von Nadia gelernt, die Psychologin ist, von Beruf oder als Hobby, das lässt sich im Moment noch nicht herausschälen, doch wer ist überhaupt Nadia?

Meine Freundin, du Arschgeige.

Du hast eine Freundin?

Seit einem halben Jahr schon, du Ignorant!

Dann fällt Juri auf, dass er sich ja selbst in dem genannten halben Jahr nicht häufiger als 3mal telefonisch an Kopp versucht hat und dabei möglicherweise unerwähnt gelassen, dass er nun eine Frau an seiner Seite…